Der Klassiker von Michael Ende. Zeitlos. Spannend. Klug. Kinderliterarisch: Der Neuanfang der Fantastischen Literatur (davon bin ich felsenbeißerfest überzeugt!) Zum stundenlangen Vor- und Selberlesen ab 10/12 Jahren.
Es fühlt sich seltsam an, für dieses Buch ein Lesealter festzustellen. Ich würde es doch nicht wirklich treffen… Und braucht dieses Buch auch gar nicht. Es kommt zu seinen Lesern, wenn sie es am dringendsten brauchen. So wie es auch im Buch selbst passiert. Und wahrhaft schön ist, wie man merkt, wenn man älter wird: Es kommt immer wieder, zu verschiedenen Lebensaltern und hat uns immer etwas Neues zu sagen.
Es ist spannend und steckt voller Abenteuer für seine jüngsten Leser. Es nimmt die älteren Leser mit in ein fantastisches Reich, in dem unterschiedlichste Wesen miteinander zurecht kommen müssen, es gibt auch hier Böse, ja, aber auch Gute — und beide haben ihre Rechtfertigung im Bestand der fantastischen Welt und sind bei näherer Betrachtung durchaus vielfältiger.
Die Unendliche Geschichte ist überaus bunt. Nicht schwarz-weiß. Statt kämpfenden, begegnen wir vor allem suchenden Helden. Nicht ihr Draufgängertum oder gar ihre Brutalität sind gefragt, sondern ihr wahrer Mut. Ihre Tapferkeit.
Das Buch steckt voller überaus fantastischer Orte, Gestalten und Ideen. Wenn nicht die Unendliche Geschichte, dann weiß ich nicht, welches Buch unser so wichtiges Kopfkino-Training gleichsam weitet und vertieft. Wer fantastische Welten wirklich vor sich sehen möchte, wird hier über die Maßen belohnt.
Die ältesten Leser werden sich vor allem an der gewählten und wortreichen Sprache Michael Endes erfreuen. Ich war bei der erneuten Lektüre über die Maßen angetan von dem reichen Wortschatz und der Sprachmelodie dieses Buchs, die mich einfach über die Zeilen trägt. Das ist Klassen besser, als das meiste, was wir zu lesen bekommen. Und natürlich berührt die tiefe Weisheit, die hinter fast jeder Szene verborgen liegt. Eingehüllt von Auryn, dem Symbol der beiden Schlangen, die ihre Schwänze ineinander verbeißend ein Oval bilden — übrigens ein uraltes Symbol der Alchimie und der historischen Magie — sind wir in der Unendlichen Geschichte in einem Schatz von Geschichten geborgen. Ein gutes Gefühl.
Ich bin parteiisch für dieses Buch. Ja, das gebe ich zu. Die Lektüre dieses Buchs hat mich mit etwa 12 Jahren zur Leserin gemacht. Ich habe schon vorher Geschichten geliebt. Doch wie wichtig Geschichten in meinem Leben sind und sein würden, das habe ich erst durch dieses Buch begriffen. Mit der Unendlichen Geschichte hat alles angefangen. Damals (das Buch ist gerade 40 Jahre alt geworden) dominierten ganz andere Geschichten den Kinderbuchmarkt. Realistische Geschichten aus dem Alltagsleben. Leider meist tragisch, unglückselig, ausweglos musste dieser Alltag sein, verkommen die „Kulissen“ der Geschichten. Das Ganze stieß mich so sehr ab, dass ich mit dem Lesen damals beinahe aufgehört hätte. Heute weiß ich, dass Ende sich bewusst gegen diese Form der Kinderliteratur wandte, dass es ihm wichtig war, Kindern den Weg in die Fantastik wieder zu öffnen. Es ist ihm gelungen. Gegen viel Gepöne und Verunglimpfungen von Seiten der Befürworter der „realistischen Kinderliteratur“. Ich bin davon überzeugt, dass viele, die als Kind wie ich die Unendliche Geschichte gelesen haben, später zu Autorinnen und Autoren wurden, die der Fantasie wieder Raum gaben. Wunderbare Bücher sind im Fahrwasser der Unendlichen Geschichte entstanden, die ja regelrecht den Auftrag zum Weiterspinnen und Erzählen gibt, wenn es fast zu jedem Kapitelende heißt: „Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.“ Viele Erzählerinnen haben weitererzählt. Vielleicht ist es zu viel gesagt, wenn man behaupten würde: Kein Harry Potter ohne die Unendliche Geschichte. Aber ich glaube das gern.
Wie auch immer — jedes Kind sollte DIE UNENDLICHE GESCHICHTE lesen dürfen. Ich freue mich, dass die hier vorliegende neue Ausgabe aus dem Thienemann-Verlag den Text wieder in beiden Farben rot und grün im Wechsel gedruckt hat. Die schönen Inkunabeln zum Kapitelanfang sind geblieben, wenn auch nicht mehr seitengroß. Eva Schöffmann-Davidov zeichnet für die illustratorische Ausstattung verantwortlich, und allein das Cover ist sternennächtig magisch. Wunderschön. Altes wie neues Gewand: Die Unendliche Geschichte bleibt ein Schatz der Literatur.
Michael Ende: DIE UNENDLICHE GESCHICHTE
Gesamtausstattung von Eva Schöffmann-Davidov. Thienemann-Verlag. 2019. Hardcover, 480 Seiten. ISBN 978-3-522-20260-2
Ab 12 (Zum Vorlesen ab 10)