Der Tag, an dem das Meer verschwand

Bilderbücher werden immer unglaublicher. All die Schönheit unserer Welt, so wie auch all die Verrücktheit derselben, all unser Schmerz, auch die Verzweiflung, der nötige Mut, das, was wir verlieren, und das, was wir gewinnen könnten, findet Widerhall in den Kunstwerken der Bilderbuchmacher. Unsere gesammelte Weisheit. Als spiele sich in der großen Bibliothek der Bilderbücher das Leben der Menschen noch einmal ab. Mit dem Unterschied, das hier Klugheit beherzigt wird, Lösungen gefunden und auch sofort in die Tat umgesetzt werden. Hier ist möglich, wozu in der Realität oft die unendliche Trägheit im Weg steht. Denn natürlich tragen hier auch Zufall und manchmal Magie das ihrige dazu bei, dass das Gute die Oberhand behält. 

© Knesebeck-Verlag

In Bilderbüchern finden wir die besseren Möglichkeiten. 

Und das ist eine Chance. Eine Vision vielleicht. Eine gute Idee, die wir unseren Kindern zeigen und vorlesen. Ist uns eigentlich klar, was für einen Stellenwert das Bilderbuch in unserer Gesellschaft einnehmen kann? Muss? Es längst tut? Wir müssen sie nur lesen.

Verzeiht mir, wenn ich mich wieder einmal von meiner Begeisterung hinreißen lasse. Ich möchte nur sagen, welch großartige, nachdenkliche, achtsame Menschen da oft am Werk sind, wenn Bilderbücher geschaffen werden. Und wie fantastisch wir als Erziehende und Lehrende, als die älteren der Spezies Mensch mit Hilfe von Bilderbüchern mit den jüngeren arbeiten können. 

Dieses Bilderbuch hier aus dem Knesebeck-Verlag möchte ich in meine Bibliothek des Wissens über das Leben stellen. Dabei ist es eine Geschichte und kein Sachbuch. Und so einfach wie selbstverständlich.
Es ist die Geschichte eines kleinen Jungen, der das Meer liebt. Er sieht es jeden Morgen beim Aufstehen von seinem Zimmer aus. Und auch abends gehört sein letzter Blick dem Meer. Er lauscht seinen Rauschen, er liebt seinen Duft. Der nahe Leuchtturm scheint ihm wie ein Beschützer. Eines Tages macht er mit seinem Papa einen Ausflug. Natürlich im Boot, und natürlich raus aufs herrliche Meer, denn hier wird man beim Picknicken nicht von Wespen geärgert. Es gibt belegte Brote, und das mitgebrachte Getränk schlürft der Junge mit einem sommerlich blau-weiß gestreiften Strohhalm. Aus Plastik. Und weil eine Möwe sich das Marmeladenbrot mopst, passiert es, dass der Strohhalm über Bord geht. Unser Junge hat ein schlechtes Gewissen. Als Kind unserer Zeit weiß er doch, dass man kein Plastik ins Meer werfen soll. Doch auf den einen Halm wird es wohl nicht ankommen…

Wir ahnen, dass es in diesem Fall eben doch auf den einen Halm zuviel ankommt. Am nächsten Tag ist das Meer verschwunden. Was stattdessen bleibt, Berge von Müll und verzweifelte Tiere, ist drastisch zu sehen. Die Verzweiflung ist sichtbar. Und der Schrei nach Rettung, das Versprechen, alles wieder gut zu machen, den dieser Bilderbuch-Junge ausstößt, geht wahrlich unter die Haut. Welch eine Szene in einem Buch für Kinder! Großartig. 

Ein Buch, das in keiner Weise verurteilt. Und in jeder Weise aufrüttelt. Denn es zeigt die unumstößliche Dringlichkeit des „dass“ und des „dass jetzt“. Erneut ein Appell an uns und unsere Kinder, auf der Stelle zu handeln. 

Jago Sam Hayned: DER TAG, AN DEM DAS MEER VERSCHWAND
Knesebeck-Verlag, 2020. Übersetzt von Gundula Müller-Wallraf. 23.0 x 23.0 cm, gebunden, 44 Seiten. ISBN 978-3-95728-398-6
Ab 5 Jahren. LESEWEIS® empfiehlt das Buch für das gesamte Grundschulalter.