Quendel (1)

Was für eine unglaubliche, hervorragend geschriebene Geschichte! So langsam, so minutiös erzählt wie ein tiefes Ein- und Ausatmen, ein Durchatmen, je mehr die Geschichte voranschreitet und wir mit den Personen vertrauter werden, das Grauen sich langsam entfaltet. Ein fantastisches Buch für Leser mit starken Nerven.

Lesetipp für die Zeit um Halloween

© Ueberreuter Verlag

Caroline Ronnefeldt kommt mit ihrer Erzählung aus dem Hügelland, in dem das Volk der Quendel ähnlich dem der Hobbits lebt, arbeitet und feiert, dem alten Spuk der Raunächte am nächsten von allen Texten, die ich bislang dazu gelesen habe. Nur ganz abgebrühte Geschichtenkenner werden bei dieser Lektüre keine Angst empfinden. Dabei spielt Quendel in einer Sommernacht, die äußerst friedvoll beginnt. Und ja, wirklich: nur eine Sommernacht – auf fast 450 Seiten lang erzählt – man kann sich vorstellen, dass das nichts für actionsuchende Leser ist.

Hier wird in einer berauschenden epischen Breite, die die Spannung schier ins Unendliche dehnt, von einer nächtlichen Suchaktion berichtet. Diese startet zunächst als aufregendes Abenteuer von ein paar Quendeln, die ihren etwas schrulligen Nachbarn, den Kartenschreiber Bullrich vermissen, der sich am Mittag in den nahen Wald Finster aufgemacht hat, einen dunklen Fleck auf der Landkarte der Quendel, den man eigentlich nicht betritt. Endlich stellt sich heraus, dass Bullrich den ungünstigsten Tag gewählt hat, um in den Finster vorzudringen. Denn in dieser Nacht werden die Grenzen zwischen den Welten dünner und reißen hier und da auf. Ein unheilvoller Vorhang scheint sich zu heben. Glitzernder Nebel steigt aus den Bruchstellen, doch das ist nur die Vorhut von etwas viel Bedrohlicherem. 


Man braucht keinen blitzenden und donnernden Krawall, um in atemloses Lesen versetzt zu werden. Virtuos spielt die Autorin mit Vorzeichen und Andeutungen, mit dem haarklein geschilderten Seelenleben der sympathischen Quendel, mit einem beeindruckenden Wortschatz, großer Kenntnis von beispielsweise Pilznamen oder von im Aberglauben verbreiteten Vorboten und natürlich dem Personal der Wilden Jagd, das hier gar nichts Lustiges oder Nettes mehr an sich hat. Ein großes Buch der Befürchtung und quälenden Ungewissheit, in das wir empathisch hineingezogen werden.

Wir mögen die Quendel, die lange nach uns Menschen leben und genau wie wir die alten Geschichten nur noch für puren Aberglauben halten. Nur wenige erinnern sich an die Warnungen der Alten. Nun ist es für Warnungen zu spät. Aus einem Grund, den wir noch nicht erfahren, kehrt zurück, was nur noch in Geschichten und Masken-Bräuchen gelebt hatte. 


Für wen ich dieses Buch empfehle? Für erfahrene Leser, die Zeit zum lesen haben und sich gern auf schöne Sprache einlassen. Für alle, die große Literatur lieben und tiefgehende Schauder lieben. „Quendel“ – zum Fürchten schön. Eine Winterlektüre, die im Sommer spielt. Phänomenal.

Caroline Ronnefeldt: Quendel
Ueberreuter, 2. Auflage 2018. ISBN 978-3-76417077-6. 448 Seiten. Ab 14 Jahren.