In Tante Julies Haus

von James Krüss

Wunderbarer Flohmarktsfund…

Ein Haus hat keine Seele, wenn sich keine Bücher darin finden? So jedenfalls sagt es unser Spruch der Woche. Ob sich in Tante Julies Haus*, das wir hier auf dem herrlichen Cover sehen, Bücher befinden, weiß ich nicht. Doch treffen sich hier jeden Abend eine Handvoll Leute zum gemeinsamen Dichten. Das ABC klopfen sie ab, sie erzählen einander Geschichten und philosophieren über die Laute und Wörter unserer Sprache. Die Seele dieses Hauses pulsiert und wärmt. Wie der Glühwein, der laut Cover-Aufschrift hier abends zu Napfkuchen gereicht wird. Vielleicht gibt es keine Bücher in diesem Haus; doch es gibt Menschen, die einander erzählen. Und das ist sogar noch ein bisschen besser. 

Dieses bezaubernde Kinderbuch konnte ich nicht auf dem Flohmarktsstand liegen lassen. So angestaubt es anmuten mag, seinen Glanz hat es nicht verloren. Wir können uns heute nicht mehr vorstellen, ein Buch anzubieten, dessen Cover jedes Fleckchen mit Wörtern füllt, Grafikdesigner würden die Hände vor’s Gesicht schlagen. Mir purzeln hier allerdings sofort die wunderbarsten Ausdrücke entgegen, Schätze unserer Sprache, das Material mit dem womöglich kein Kinderbuchautor so gut umgehen konnte wie der Helgoländer James Krüss. Fideles Haus, Sandmann und Rasputin, Napfkuchen und Glühwein, Zimmer mit Namen, Regenwetter, sieben Zinkwannen, alle vier Himmelsrichtungen… geht es nur mir so, oder hört auch ihr bei diesen Worten schon den Wind im Kamin pfeifen? Die Brandung an die rote Steilküste donnern? Den Ofen bollern? Die Behaglichkeit tuscheln? 

Die Seele des roten Backsteinhauses windet sich bereits durch diesen Text, der charmanterweise auf dem Cover unten rechts mitten im Wort mit einem Trennstrich endet (erneut schaue ich mich ängstlich nach den Grafikdesignern um), um auf der Rückseite in noch fünf weiteren Zeilen zuende geführt zu werden. (Unter dem Riss steht übrigens „Spinn-“. Und nur für die Neugierigen: Man wirft in Tante Julies Haus Spinnen nicht in den Ofen, sondern in den Rosengarten. Doch das haben wir uns mittlerweile ja selbst schon fast gedacht. Bei einem Haus mit Seele!

Ein Kinderbuch habe ich gefunden, schreibe ich. James Krüss ist einer unserer bekanntesten Kinderbuchautoren. Doch würde „In Tante Julies Haus“ heute überhaupt noch als Kinderbuch durchgehen? Ein Buch, das so wunderbare Weisheiten verbreitet wie

„Man muss die Menschen nehmen, wie sie sind. Einer säuft, einer hat’s mit den Weibern, und einer dichtet eben. Warum nicht? Jeder hat sein Laster. Ich für meinen Teil prieme. Aber das hat doch nichts zu tun mit dem, was ein Mensch sonst tut oder kann. Oder?“ (Seite 77) 

Würde ein Kinderbuchverlag heute noch wagen, es herauszugeben? (Wenn es denn kein Klassiker wäre, meine ich.) Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist nämlich einzigartig, keinerlei Ähnliches ist gerade in allen anderen Verlagen bereits erfolgreich präsent. Die Helden und Heldinnen dieses Buchs sind Erwachsene. Keinerlei Kind mit Superkräften in der Nähe. Es wird mit unendlicher Ruhe erzählt. Keinerlei Spannung, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn — dafür Glühwein und Redensarten, ein Schiff, das bald ablegt und ein Urgroßvater, der in einer anderen Geschichte sehr lebendig war, doch jetzt betrauert wird. Überhaupt tauchen Figuren aus anderen Büchern des Autors auf. Der berühmteste dürfte Timm Thaler sein. (Mittlerweile erwachsen, doch sein Lachen bezaubert noch immer.) Und der Querverbindungen zu den anderen Werken James Krüss’ sind viele. Heute wird gern von „der Welt des…“ oder „dem Universum der…“ gesprochen. Bei diesem Nordlicht von Autor wäre das wirklich angebracht. Seine Geschichten und Bücher sind miteinander verquickt, die Schicksale seiner Helden verwoben, wer hier eine Nebenrolle hat, dem wird dort ein ganzer Roman gewidmet, so dass kein Erzählstrang verloren geht. 

Am meisten fasziniert mich der Inhalt des Buchs. Tante Julies Haus ist eine kleine Pension auf der Insel Helgoland. Noch sind die Scharen von Sommergästen nicht eingetroffen. Man ist noch fast unter sich, ein, zwei Stammgäste, sonst nur Einheimische. Am Abend hat man Zeit. Und da nehmen sich die Bewohner des Hauses und ihre liebsten Nachbarn das Alphabet vor. Jeden Abend ein oder zwei Laute. Sie spüren dem Laut nach, erfahren seine Qualitäten, ob er von Sehnsucht säuselt oder vor Lebendigkeit nur so sprudelt oder doch vielleicht eher mit militärischem Zack daher kommt. (Schriftsteller, hier kann man richtig was über unsere Sprache lernen!) Und dann wird gedichtet – mit und über den Laut. Jemand schreibt eine Geschichte oder teilt mit den anderen eine Erinnerung. Manche länger, andere nur ganz kurz. Brillant oder ein wenig unbeholfen. Doch alles gilt. Ein Dekameron auf Nordfriesisch. Für ein Kinderbuch viel zu eng bedruckt, viel zu plump illustriert, könnte man sagen, doch mit jeder Zeile, jeder leicht vergilbten Seite werde ich hier großartig unterhalten. Von Überraschung zu Überraschung. Von Spaß zu Weisheit.

Der Staub von 54 Jahren lässt sich leicht vom Buch hinunterpusten. Was sonst noch hier staubt, muss so eine Art Feenstaub der Dichterfeen sein, der sich als Patina über die Zeilen gelegt hat. Die aus einem alten Buch einen Schatz hat werden lassen. (Was nicht mit jedem alten Buch passiert.) Mein Fund macht mich glücklich. Dass die Lektüre nach 7 Abenden beim Buchstaben L endet, könnte ärgerlich sein, wäre ich so nicht dahinter gekommen, dass es einen weiteren Band gegeben hat: „Sturm um Tante Julies Haus“. Wenn ich den doch nur irgendwo finde! Nun, die Flohmarktssaison hat für dieses Jahr noch gar nicht begonnen. Ich hoffe, dieses Buch in Händen zu halten, wenn bei uns die ersten Herbststürme erst wieder ins Land ziehen.

„Die Welt wimmelt von Geschichten, die nirgends aufgeschrieben sind. Schießen Sie los, Tante Julie!“ (Seite 96)
*James Krüss, In Tante Julies Haus. 
Oetinger Verlag, Hamburg. 1969. Illustriert von Jochen Bartsch.
ISBN 3 7891 2220 3