Eine Schildkröte erlebt die Freiheit in Berlin
„Törtel hätte endlos so krabbeln können, denn ist man nur langsam genug, geht es immer, immer weiter. Je kleiner man nämlich selber ist, desto größer ist die Welt.“ Wieland Freund in TÖRTEL UND DIE NUMMER 3, Beltz und Gelberg, 2011.
Schon an diesem einen Zitat können wir sehen, dass Wieland Freund (Jahrgang 1969) genau weiß, für wen er schreibt. Nämlich für die Menschen, für die die Welt noch wirklich groß ist: unsere Kinder. TÖRTEL, DIE SCHILDKRÖTE AUS DEM MCGRÜN, ist – wie sie – eigentlich viel zu klein für die Welt außerhalb seines Terrariums und bestimmt viel zu langsam für die Straßen Berlins. Und doch verschlägt es die kleine griechische Landschildkröte, die im Gartencenter McGrün geboren wurde, genau in diese für sie so fremdartige, schnelle, große und gefährliche Welt. Als ihr Käufer sie aus dem Autofenster schleudert, weil er sie nicht mehr gebrauchen kann, und Törtel rücklings auf dem Fußgängerweg einer Müggelseer Straße liegen bleibt, beginnt für ihn die wunderbare Geschichte des Lebens. Nicht Tiefpunkt, sondern Ausgangspunkt. Törtels Blick – er liegt ja auf seinem Panzer – geht in den sternenübersäten Nachthimmel. Für ihn ein ergreifender, ja optimistischer Augenblick. Genau da beugt sich Wendy, die Füchsin, über ihn. Und eine ganz besondere Freundschaft beginnt.
Vielleicht eine der schönsten Freundschaften im Büchertierreich.
Von nun an lernt Törtel das Leben in dem Berliner Stadtteil kennen, in dem Wildtiere gelernt haben, mit und von den Menschen zu leben. Da gibt es Tonnentage, an denen die Menschen offenbar besonders großherzig sind und leckere Dinge in großen Tonnen vor das Haus stellen. Da gibt es Supicat auf den Terrassen, das zwar für Katzen gedacht ist, aber auch Füchsen, Dachsen und Waschbären schmeckt. Da gibt es eine Menge herrlicher Dinge, die man sich mit etwas Geschick erobern kann. Oder auch weniger geschickt, wie Grmpf, der unbeherrschte Keiler, nicht selten beweist. Kein Wunder, dass Tier und Mensch sich da bald gegenseitig ins Gehege geraten. Woche für Woche berufen die Tiere deshalb ein Meeting an der Mole ein, wo sie unter der Leitung des stolzen Schwans Hokuspokus ihr Dasein in Abhängigkeit von den Menschen hinterfragen. Urkomisch und doch auch nachdenklich stimmend wird hier eine Geschichte unserer Zeit erzählt. Die sympathischen Helden, die lebende Vorbilder in unserer Hauptstadt haben, lassen uns schnell einen neuen Blick auf unser eigenes Alltagschaos werfen. Kritik ist unüberhörbar.
Eine dreifach gute, bezaubernd komisch und herzergreifend erzählte Geschichte.
Törtel ist immer der Letzte, der an der Mole ankommt, doch verhilft ihm seine Langsamkeit zu Beobachtungen, die sich anbahnende Konflikte friedlich lösen können. Bei aller Trägheit verfügt er als einziger noch über die Fähigkeit des ruhigen Nachdenkens, das natürlich Zeit kostet, aber auch zu wertvollen Ergebnissen führt. Jetzt muss die kleine Schildkröte es nur noch schaffen, gehört zu werden. Nicht einfach. Kinder wissen das – denn wer hört schon den Kleinen, Langsamen zu? Törtel aber schafft es. Er ist nicht nur langsam, sondern auch klug und umsichtig und im entscheidenden Moment sogar mutig. Er verschafft sich erst Gehör, dann Anerkennung und wird schließlich zum Helden der Tiere von Müggelsee. Ein dreifacher Sieg des kleinen Wesens. Törtels und des Kindes. Und damit eine dreifach gute, bezaubernd komisch und herzergreifend erzählte Geschichte für Kinder ab 9 Jahren und alle Erwachsenen, die gern mal über sich selbst schmunzeln und nachdenken wollen. Zum Glück gibt es Törtel und seine Mitstreiter bislang tatsächlich auch schon in drei Geschichten. Trilogien sind derzeit ja sehr beliebt. Trotzdem hoffen wir, dass wir Törtel in den kommenden Jahren noch öfter treffen werden. Sei es an der Mole vom Müggelsee oder in der Buchhandlung. Nur nie, nie wieder im neonbeleuchteten McGrün! Diese verlogene „Welt“ dort ist uns nämlich längst zu klein. Wir wollen den Sternenhimmel. Die Freiheit. Und so gute Geschichten wie die von Törtel.
Wieland Freund: TÖRTEL, DIE SCHILDKRÖTE AUS DEM McGRÜN
Alle drei Bände bei Beltz&Gelberg, 2011-2013. 978-3-407-74985-7
ab 8 Jahren