Offene See

Ich finde so selten Romane für Erwachsene, die ich aus vollem Herzen empfehlen kann. Weil sie Lesen zum segensreichen Erlebnis machen. Dies ist ein solcher Roman. Einfach wunderschön.

© Dumont

Viele Menschen schildern mir, dass sie gerade mehr als reif für die Insel sind. Gibt es nicht ein Buch, dass uns auf eine Insel entführt? Wir brauchen was zum Durchatmen, wir brauchen schöne Landschaft, Fernsicht, Menschlichkeit. Das wunderbare Leben. 

Wer mich danach fragt, bekommt derzeit nur diesen einen Buchtipp von mir: Benjamin Myers OFFENE SEE, das in Deutschland aktuell 2020 bei Dumont erschienen ist. 

Es nimmt uns mit auf die britische Insel. Wir landen im Norden Yorkshires und erleben einen jungen Mann auf Wanderschaft. Er bricht kurz nach Ende des 2. Weltkrieg auf. Einer Zeit, in der die Menschen gerade durch eine schwere Krise durch sind. Alles um diesen jungen Mann atmet auf und wieder durch. Der frische Hauch einer neuen, besseren Zeit durchweht dieses Buch. Und er, der frisch von der Schule kommt, die Gräuel des Krieges nur aus den Erzählungen der anderen kennt, möchte was von seinem Land sehen — und vor allem die See — bevor er, wie vom Vater gewünscht, folgsam unter Tage arbeiten wird. 

Er gelangt ins von der Natur so rau geküsste Nord Yorkshire und lernt hier eine Frau kennen: eine alte, wilde Frau inmitten ihres Gartens an der Küste. Eine Frau, die trotz Rationierung das herrlichste Essen auf den Tisch zaubert, die ganz andere Geschichten über die Deutschen kennt, als er sie gehört hat, und die ohnehin viel zu erzählen hat. Er bleibt eine lange Weile, und die Begegnung ändert sein Leben für immer. Auf eine Weise, die sich keiner hätte erträumen können. 

Es ist eine Lektüre, die mein Herz aufgehen lässt. Endlich! Ein Buch, das so gut tut. Es liest sich so schön, dass ich mir jeden Abend noch etwas aufgehoben habe, um am nächsten noch ein Stück weiterlesen zu können. Mein derzeit virtueller Lesekreis hat mitgelesen. Die Reaktionen waren alle ähnlich.

Ich habe mich gefragt, was an dieser Lektüre so aufmunternd, so wohltuend ist: Die wunderbare Sprache. Der sanfte Erzählstrom. Das Wenige, das dem Wanderer genug zu sein scheint. Die interessante Begegnung, die zum Kern der Erzählung wird. Dies alles? Ja.

Aber noch etwas: Der Krieg, den die Menschen noch „wie Schatten von Särgen hinter sich herziehen“, ist vorbei. Das Schreckliche ist geschafft. Mit jeder Zeile spüre ich frisches, neues Leben und das macht es gerade jetzt so wunderbar. Ich lese dieses Buch wie Butter. Und zwar wie Bärlauchbutter! (Warum Barlauch, das müsst ihr selbst rausfinden!) 

Tiefsinnig, vollmundig, ein wenig traurig und doch so leicht wie eine Brise vom offenen Meer. 

Ich kann nur sagen: Tut euch was Gutes und lest, was der leseweise Mehrgenerationen-Lesekreis euch empfiehlt: 

Benjamin Myers: OFFENE SEE.

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.

Dumont, 2020. Gebunden. 265 Seiten. ISBN 978-3-8321-8119-2. Für Erwachsene

#_leseweis_wird_erwachsen