Die intakte Patchwork-Familie
Leseweise Gedanken zu Stefanie Taschinskis 4-bändiger Reihe
Wenn ich ein neues Buch zu lesen beginnen, habe ich Erwartungen. Die auf meinen Hoffnungen beruhen, welche das Titelbild möglicherweise angestachelt hat. Oder die auf Erfahrung beruhen, die ich durch das Lesen so vieler Kinder- und Jugendbücher in den letzten Jahren gemacht habe. Manchmal ist es ein Segen, wenn diese Erwartungen nicht bestätigt werden. Das wunderbarste Beispiel aus jüngster Zeit ist hierfür der Vierbänder „Familie Flickenteppich“ von Stefanie Taschinski, den ich aus ganzem Herzen empfehle. Und das vor allem wegen des einen Grundgefühls, den die Reihe auf ihre Leser:innen überträgt: Geborgenheit.
Geborgenheit. Es mag ein altmodisches Wort sein. Und ich mag durchaus altmodische Vorstellungen haben. Doch bin ich mir sicher, dass Kinder nichts so dringend brauchen wie eben diese Geborgenheit. Zerrüttete Verhältnisse, zerrissene Familien, Trennung und Aufteilung bieten davon leider herzlich wenig. Schlimm genug, wenn der Alltag eines Kindes daraus besteht und irgendwie gemeistert werden muss. Noch schlimmer, wenn Kinderbücher auch noch damit ankommen. Im Jugendbuch ist es praktisch schon Trend und seufzend lege ich eines nach dem anderen zur Seite. Papa weg. Mama weg. Geschieden, gestorben, getrennt… verloren. Brauchen junge Leser:innen das? Brauchen sie das — zu allem Leidwesen — auch noch im Buch?
Meine Antwort darauf war stets nein. Ich glaube nicht, dass es in jungen Jahren hilfreich ist, zu lesen, dass es anderen genau so schlimm oder gar noch schlimmer geht als einem selbst. Dass auch Bücherhelden die Katastrophe familiärer Zerrissenheit erleben und überleben. Mein Gefühl sagt mir, das macht nur noch hoffnungsloser. Denn selbst wenn ein solches Buch gut ausgeht, ist und bleibt doch das alte Vertrauen, die Ur-Geborgenheit verloren. Ich sage auch jetzt noch nein. Doch da ich lieber positiv formuliere, mache ich es so: Ich sage ja und werde immer ja sagen: Ja, junge Leser:innen brauchen im Buch Geborgenheit. Eine gute und gern auch gehörig übertriebene Portion von Geborgenheit. Seit Stefanie Taschinskis „Familie Flickenteppich“ wird meine Aussage jedoch konkreter: Nicht die intakte Mama-Papa-Kind-Familie ist das, was ich im Kinderbuch erwarte, sondern die umfassende, voll und ganz verlässliche Geborgenheit. Und die geht eben auch bei Flickenteppichs. Vielleicht sogar viel besser.
Welche Erwartung hatte ich also, als ich „Familie Flickenteppich“ zu lesen begann? Nun, „Flickenteppich“ ließ natürlich von Anfang an die humanitäre Katastrophe früher Kindheitsjahre vermuten. Scheidung. Neuer Partner für die Elternteile. Fremde Kinder. Doch ich hatte noch eine Erwartung, da ich jedes Buch von Stefanie Taschinski gelesen habe, und sie unumwunden für eine der beiden besten deutschsprachigen Kinderbuchautorinnen unserer Tage halte. Sie hat mich nicht enttäuscht, sondern erneut bestätigt und bezaubert. Und bekehrt: Geborgenheit ist das Schlüsselwort. Das allein. Für die Menschen, die in Haus Nr.11 in der Hansestadt Hamburg leben, gilt Kunterbunt, gilt Zusammengewürfelt, gilt Dicht-Verwebt aus der Fülle von Konnotationen, die mit dem Wort Flickenteppich einher gehen. Flickenteppich bedeutet hier Zusammenhalt, nicht zerrissene Fetzen. Die Menschen im Buch haben etwas Neues entstehen lassen. Sie halten auf nicht traditionelle Weise zusammen. Weshalb die Geborgenheit hier komplett intakt ist.
Worum geht es in Familie Flickeneppich? Hier geht es zu den einzelnen Besprechungen. Band 1: Wir ziehen ein Band 2: Wir haben was zu feiern Band 3: Wir machen Ferien Band 4: Wir freuen uns auf Weihnachten
Ja, Erzählerin Emma zieht mit ihrem Bruder, ihrer Schwester und dem Papa ins Haus Nr. 11, weil Mama die Familie verlassen hat. Und durch alle vier Bände hindurch wird Mama, die mit ihrem neuen Freund Karriere als Sängerin macht, vermisst. Und in der Wohnung nebenan fehlt Aylin und Tarek der Papa, der gestorben ist. Doch all das liegt längst zurück, die Geschichte der Freundinnen erzählt vom Zusammensein und nicht von Trennung. Hier sind die Kinder inklusive der Leser:innen geborgen. Und das in der genauso gehörig übertriebenen Portion, die ich für Leser:innen im Grundschulalter einfordere. Die Kinder von Bullerbü könnten nicht so vollkommen herrlich Kind sein und in vollen Zügen das Abenteuer Kindheit erleben (und wir mit ihnen), wenn ihre Eltern, die in den drei Büchern Astrid Lindgrens kaum in Erscheinung treten, nicht im Hintergrund für Geborgenheit sorgen würden. Die Kinder von Bullerbü müssen sich nicht um das Seelenwohl der Erwachsenen kümmern. Sie dürfen ganz und gar sie selbst sein und spielen, spielen und spielen. Das ist der Charme, der von den Bullerbü-Geschichten ausgeht.
In modernen Kinderbüchern treten Erwachsene deutlich mehr in Erscheinung als in Bullerbü. Vielleicht ist Kindheit heute nicht mehr so getrennt von den Großen zu erleben wie einst. Und in „Familie Flickenteppich“ sind die Erwachsenen ein Segen, weil sie da sind. Weil sie fröhlich sind. Und einen guten Faden beim Abenteuer Leben mitreinweben. In Haus Nr. 11 wohnen nämlich noch ein paar andere Leute. Eine alleinstehende ältere Dame, die zur Haus-Oma wird. Ein Pärchen zweier Frauen, die glücklich verliebt zusammen leben. Ein Ehepaar im Großeltern-Alter, stets ein bisschen spinnenbeinzählerisch und mülltonnentrennerisch, doch im Endeffekt auch von der liebenswerten Sorte. Bei ihnen ist oft der Enkel zu Gast, der zum dritten Junge im Haus Nr. 11 wird. Und dann wohnt da noch der Geheimnisvolle, der Eigenbrödler. Ein schrulliger Nachbar, Graf und Erfinder, der nur ganz selten aus der Versenkung auftaucht. Damit ist in einem Haus unserer Zeit ein Personal versammelt, das nur noch anfangen muss miteinander zu agieren, um eine köstliche Geschichte entstehen zu lassen.
Es ist das Glück eines Mehrgenerationen-Hauses, das für die Geborgenheit in „Familie Flickenteppich“ sorgt. Alte, Junge, Einsame, Gemeinsame, „Normale“ und Schrullige wohnen hier auf engem Raum zusammen und sind füreinander da. In diesem Raum lässt sich Kindheit wunderbar erfahren. Das Abenteuer kann beginnen. Auch für die Leser. Und so erleben wir ein Jahr hindurch in den vier Bänden das Leben und den Kinderalltag in Haus Nr. 11. Die Erwachsenen treten auf den Plan, wenn sie gebraucht werden. Die beste und vielleicht einzige Rolle, die Erwachsene im Leben eines Kindes spielen sollten. Doch dann sind sie da, und das gleich in so vielerlei Gestalt.
Es ist eine Freude, für Eltern, Großeltern und Kinder, die muntere „Familie Flickenteppich“-Reihe zu lesen. Voller Humor, voller Alltag, wie wir ihn kennen, voller kleiner Freuden und kleiner Missgeschicke, voll von dem, was Leben ausmacht und Kindheit ausmachen sollte. Vor allem aber getragen von Miteinander und Geborgenheit. Diese Lektüre ist heilsam. Und hilft, eines Tages selbst als guter Erwachsener in den genau richtigen Hintergrund zu treten und zu wissen, wann und wofür man gebraucht wird. Wer als Kind Geborgenheit kennenlernen darf, wenigstens im Buch, kann sie eines Tages selbst hervor zaubern.