Auf einem Anwesen wie Moonacre, dem Familiensitz der Merryweathers, mutet es nicht abwegig an, dass ein kleines weißes Pferd in Wirklichkeit ein Einhorn ist. Das Mädchen Maria sieht es zunächst immer nur nachts. Und sie sieht und hört andere Merkwürdigkeiten auf dem Gut ihrer Familie, wohin es sie mit ihrer Gouvernante aus London kommend verschlagen hat. Und schon sind wir mittendrin in einem zauberhaften Abenteuer, das schon seit über 80 Jahren seine Leserinnen in Bann schlägt.
Sicher ist es kein Wunder, dass in einer englischen Geschichte von 1940 ein Stadtmädchen auf’s Land kommt. Man denke nur an die vielen Kinder, die damals aus der von Bombardierung bedrohten Hauptstadt in die dörfliche Sicherheit verschickt wurden. DAS KLEINE WEISSE PFERD wurde in dieser Zeit geschrieben, spielt jedoch deutlich früher.
Junge Leserinnen werden von Marias abenteuerlicher Geschichte schnell in Bann gezogen. Denn ein Fluch lastet auf Moonacre. Auslöser ist eine seit Jahrzehnten andauernde Fehde mit den Herren des Nachbarguts. Schnell wird jedoch klar, dass hier nicht nur böser Zauber wirkt, sondern auch die guten Mächte wichtigen Einfluss ausüben. Es scheint, als habe alles hier nur auf Marias Ankunft gewartet, als sei sie die Prinzessin, die das schlafende Gehöft und ihre nahezu erstarrten Bewohner zu neuem Leben und zu neuer Freude erwecken kann. Und bereits hier wird aufmerksamen leseweisen Lesern klar, dass das wahre Einhorn nun nicht weit sein kann.
An anderer Stelle habe ich mal beschrieben, wie dieses Buch auf die jungen Teilnehmer meines Lese-Saloons gewirkt hat. Für viele von ihnen begann die langatmig erzählte Geschichte erst auf Seite 120, als unheimliche schwarze Männer auftauchen und Maria erstmals in große Gefahr gerät. Es ist dem Stile der Zeit geschuldet, dass Action hier geruhsam einsetzt. Andere jedoch hatten sich von den ausführlichen Beschreibungen zuvor bereits verzaubern lassen und schilderten, wie wunderbar sie sich jedes Detail vorstellen konnten. Ab Seite 120 waren dann alle dabei, Mädchen wie Jungen; denn Maria ist eine tapfere Heldin, die sich der Aufgabe stellt, die aus der Vergangenheit auf sie zukommt. Die freundlichen, teils beinah unheimlichen Wesen, die ihr zur Seite stehen, Menschen wie Tiere, entfalten machtvolles Potential: so werden sie auch zu unseren Freunden.
Diese Geschichte ist in allen Belangen großartig: Sprache, Spannung, Fantasie, Setting, unvergessliche Figuren, ein Plot voller Überraschungen — und ein Ende mit nicht nur einer, sondern gleich drei Hochzeiten. Verfilmt wurde das Buch schlicht miserabel. Also erwähnen wir das lieber gar nicht weiter. Joanne K. Rowling, keine Geringere, nannte dieses Buch ihr Lieblingsbuch aus Kindertagen. Das wundert mich kein bisschen.
Elisabeth Goudge: Das kleine weiße Pferd 1940. Verlag Freies Geistesleben, dritte Auflage 2015. Aus dem Englischen von Silvia Brecht-Pukallus. Mit den Illustrationen der Originalausgabe von C. Walter Hodges. ISBN 978-3-7725-2046-4. Ab 10.