„Bis zum Sonnenaufgang fehlte zwar noch eine gute halbe Stunde, doch ich wollte meine täglichen Naturbeobachtungen gern notieren, bevor meine Brüder den Frieden des frühen Morgens störten.“
Calpurnia ist ein außergewöhnliches Mädchen, eine Buchheldin, die ich ganz besonders ins Herz geschlossen habe. Auch aus dem einfachen Grund, weil sie Vorbild ist. Sie hat ein Ziel, ist tierlieb, aufmerksam, stolz, willensstark, dabei freundlich und voller Respekt für das Leben um sie herum. Sicher habt ihr längst auf unsere Empfehlung hin den ersten CALPURNIA-Roman gelesen, der mit dem Wunder des Schnees am ersten Januar 1900 endet. Der zweite Roman ist noch schöner – etwas, das in der Geschichte der Bücher eine Seltenheit ist.
Calpurnia ist ein bisschen älter geworden, ihr Hang zu Tieren entwickelt sich mehr und mehr zur Tätigkeit einer wissbegierigen Forscherin. Prompt spürt sie immer deutlicher, dass ihr als einziges Mädchen in der Familie eine andere Rolle zugedacht ist. Doch statt sich zur jungen Dame erziehen zu lassen, denkt Calpurnia eigenständig, liest, beobachtet, lässt sich von den Gegebenheiten der Natur faszinieren. Forscht. Ihr Großvater unterstützt sie dabei. Stoisch und brummig. Nur leider scheint er der einzige zu sein, der Verständnis für ihre Umtriebigkeit aufbringt. Ihr kleiner Bruder liebt die Tiere ebenso wie sie – doch versagt bei ihm der nötige, respektvolle Abstand, wenn man die Natur sich selbst überlassen oder gar ein Tier retten muss.
Das Leben wird ernster. Eine schwere Flut verwüstet Küstenstriche von Texas, viele Menschen kommen ums Leben. Auch entfernte Verwandte von Calpunia sind betroffen. Hilfe und Zusammenhalt sind angesagt. Außerdem lässt sich erstmals ein Tierarzt in der Gegend nieder; zwar scheint er Calpurnia anfangs auch nicht recht wahrzunehmen – schließlich ist die „bloß“ ein Mädchen -, doch langsam beginnt er ihr Potential zu erkennen. Er öffnet ihr seine Praxis und damit den Zugang zu weiterem Wissen über Tiere.
Eine Geschichte, in der wir miterleben, wie ein Wunsch immer dringlicher wächst und eine junge Person daran arbeitet, ein ungerecht geschnürtes Korsett langsam erfolgreich weiter aufzubrechen. Ungeheuer motivierend. CALPURNIA ist die Geschichte eines zarten, starken Mädchens, das sich zusehends entpuppt und aufrichtet in einer Gesellschaft, die selbst noch viel zu lernen hatte. Ein Zeitporträt, eingebettet in eine liebenswerte, ehrliche und oft auch sehr komische Familiengeschichte, in der es von ulkigen Tieren und verschrobenen Menschen nur so wimmelt. Einfach wunderbare Lektüre.
Jacqueline Kelly: CALPURNIAS FAZINIERENDE FORSCHUNGEN. Übersetzt von Birgitt Kollmann. Mit zahlreichen, überaus stimmigen Vignetten von keiner Geringeren als Maria Sibylla Merian. Die allen Kapiteln vorangestellten Zitate stammen aus Charles Darwins DIE FAHRT DER BEAGLE. Carl-Hanser-Verlag. 2015. #_ISBN_978_3_446_24930_1. Fester Einband, 318 Seiten. LW_ab_12_Jahren. 16,90 €