Das Einhorn ist eine der schimmerndsten Gestalten menschlicher Erzählkunst. Mystisch und machtvoll, stark und grazil zugleich. Dabei scheu, höflich, gütig und leise. Ein Innbild edler Schönheit. Vor dem wir uns unwillkürlich verneigen möchten. Als habe man dem ohnehin schon edlen Pferd als Krone noch ein erhabenes Horn aufgesetzt. Was – nicht nur bildlich gesprochen – ja auch geschehen ist.
(Die Frage bleibt: Warum?)
Das Einhorn ist umrankt von Geheimnissen aus einer uralten Zeit, als nicht nur das Wünschen noch geholfen hat, sondern der Glaube an ein einzigartiges Geschöpf das Leben lichter und glanzvoller machte. Mit den ersten Geschichten über dieses Wesen kam die Überzeugung von seiner Existenz. Dass es nie ein Mensch zu Gesicht bekam, niemand die Existenz des Einhorns je beweisen konnte, bestätigte nicht, dass es ins Reich der Fantasie gehörte, sondern steigerte seinen Wert noch ins schier Unermessliche.
(Auch hier fragt man sich: Warum?)
Vielleicht weil wir so gern an so ein wunderbares Wesen glauben möchten. Vielleicht aber auch weil sich damit was verdienen lässt? Zwei Vielleichte, die sich gut ergänzen.
"Wer sich bewusst ist, dass alles nur ein Spiel ist, verliert nie die Freude und die Leichtigkeit. Nur im Ernst verwundet man sich tödlich." Max Kruse in Das silberne Einhorn. Thiele-Verlag, 2011
Das Rätsel um und der Glaube an das Einhorn brachte die Menschen nicht nur dazu, zu träumen, sich zu sehnen und zu fabulieren, sondern bald auch zu lügen, zu prahlen, zu betrügen. Falsche Fakten zu streuen. Und zuzusehen, wie sie sich verfestigten. Eine ganze Industrie blühte auf, die beispielsweise Hörner der (armen) Narwale als heilkräftige Hörner von Einhörnern verkaufte. Zahllose Apotheker in aller Welt zermalmten jahrhundertelang die falschen Hörner zu Pulver, das nicht nur Fieber senken, sondern auch anderweitig heilend wirken sollte. Ist noch gar nicht lange her, dass sie mit dem Malmen aufgehört haben.
"Es ist ein fester Bestandteil unserer kollektiven Vorstellung und bleibt uns zugleich entzogen." Bernd Roling und Julia Weitbrecht in Das Einhorn. Geschichte einer Faszination. Hanser, 2023
Die Spielzeugindustrie macht da munter weiter, wo die Apotheker aufgehört haben. Teile der Kinderbuchindustrie ebenso. Und erneut blüht das Geschäft. Sie schöpfen mit glitzernden, regenbogigen, rosamähnigen, fetten und oft sich derb daneben benehmenden Einhorn-Produkten immer noch Geld ab bei Menschen, die am Wunder des Einhorns teilhaben möchten. Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Diese Varianten des Einhorns, die noch kräftig durchmischt werden mit einem anderen Fabelwesen, dem Pegasus, möchte ich lieber ausblenden. Und zurückkehren zu einer Figur, die am ehesten einem tierischen Engel gleicht. Einem Wesen, das durch seine Güte und seinen Edelmut besticht. Deshalb auch schimmernd. Und nicht schillernd. Und leider nicht mehr sehr in Mode… Doch in guten Geschichten, die uns bis heute verzaubern, taucht dieses schimmernde Einhorn noch auf.
Ich habe hier eine Reihe von Kinderbüchern zusammengestellt, in denen uns das Einhorn so begegnet, wie es seit Jahrhunderten, gar Jahrtausenden, durch die menschliche Mythologie tradiert wurde. Als das langsam gewachsene Wunderwesen, das bis heute Unvorstellbares ineinander vereint: Große Macht und unendliche Güte. Damit ist es der Gegenentwurf zur großen Lehre, die wir aus dem Herrn der Ringe ziehen: Nicht jedes Wesen ändert seinen Charakter, wenn es die Macht über alle anderen erlangt. Allerdings bleibt das Einhorn wohl die einzige Ausnahme, was nur noch einmal bekräftigt, dass es nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Idealismus geboren ist.
"Je mehr du bewunderst und achtest, desto glücklicher und reicher wird dein Leben." Max Kruse in Das silberne Einhorn. Thiele-Verlag, 2011
Da es uns leseweisen Leuten beim Einhorn um das Gütige, das Freundliche und so über das wahrhaft Erhabene geht, das sich um das alte Fabelwesen rankt, hier meine Empfehlungen für Geschichten und Bücher, in denen es überlebt hat. Mit diesen Büchern können wir den Traum eines vollkommenen, freundlichen Geschöpfs, dessen Existenz so flüchtig ist, dass nur einige wenige Geschichten es uns zeigen können, weiterträumen.
Elisabeth Goudge, Das kleine weiße Pferd. 1940
Peter S. Beagle, Das letzte Einhorn. 1968
Otfried Preußler, Das Märchen vom Einhorn. 1975
Linda Chapman (u.a.), Sternenschweif. 2004
Mary Pope Osborn, Das verwunschene Einhorn aus der Reihe Das magische Baumhaus. 2007
Max Kruse, Das silberne Einhorn. 2011
Gabriele Rittig, Das Geheimnis des schwarzen Einhorns. 2015
Judith Drews, Die Einhorn Enzyklopädie. 2021
Briony May Smith, Emmas Einhorn, 2021
Über das Einhorn:
Bernd Roling & Julia Weitbrecht, Das Einhorn. Geschichte einer Faszination. 2023
Jorge Luis Borges, Einhorn, Sphinx und Salamander. 1993
Für weitere Titel aus der Kinderliteratur, in denen ihr das Einhorn aufspürt, bin ich sehr dankbar.