Das Einhorn. Geschichte einer Faszination

Es gibt in der Literatur kein edleres Tier als das Einhorn. Ein menschliches Fantasieprodukt aufrichtiger Güte. Erstaunlich, dass wir Menschen etwas so Friedvolles erfunden haben. Ein Wesen, das machtvoll ist und zurückhaltend zugleich. Das seine magischen Fähigkeiten niemals gegen andere wendet und leider über all die Jahrtausende, in denen man an es glaubte, nie entdeckt wurde. 

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Wenn ein Held solange schon durch die Geschichten der Menschen geistert, haften ihm nach und nach Tugenden und Mythen an, die sich zunehmend etablieren und nicht mehr von ihm zu trennen sind. Sie werden von Geschichte zu Geschichte weitergegeben, nicht unähnlich dem gewöhnlichen Gerücht. Und so verfestigt sich allmählich ein Mythos rund um ihn. Voller Finessen, Eigenheiten und Gesetzmäßigkeiten. Heißt, kein Einhorn ohne Grazie, ohne eine Wildheit, die nur von einer reinen Jungfrau gezähmt werden kann; kein Einhorn ohne heilkräftiges Blut oder ohne magische Kräfte in seinem Horn. Eine Autorin wie Joanne K. Rowling kennt diesen Mythos. Was in Harry Potter über Einhörner gesagt wird, kommt nicht aus dem luftleeren Raum, sondern setzt die Tradition unserer kollektiven Vorstellungen dieses Wesens fort. Was hingegen Großteile der Kinderbuch- und die Spielzeugindustrie anbelangt, kann man häufig nicht mehr auf den Ausbau dieser alten Kenntnisse setzen, was schade ist. Natürlich haben auch plumpe Plüschwesen ihre Reize, doch müsste dafür ja nicht ein so edel gewachsenes Geschöpf herhalten müssen… Doch das mag meine Meinung sein. Außerdem gibt es die „wahren“ Einhörner auch neben Harry Potter noch immer in der Kinderliteratur und ich hoffe, da sie rar sind, dass viele Leser sie finden, bevor sie sich vom Kitsch der rosa Regenbogen-Pferde überreizt vom Einhorn abwenden. Und überalldies hinaus ist das Einhorn ja ohnehin nur Objekt einer menschlichen Faszination, das nach und nach zum perfekten Wesen gesteigert wurde — da lässt sich über richtig oder falsch ohnehin nicht streiten. 

Bernd Roling und Julia Weitbrecht nennen ihre Kulturgeschichte des Einhorn-Glaubens so im Untertitel ganz richtig: „Geschichte einer Faszination“. Ausgehend vom Schulunterricht Professor Raue-Pritsches, die das Einhorn im Hogwarts’schen Schulfach „Pflege magischer Geschöpfe“ behandelt, wandern die beiden Autoren auf Spurensuche zurück durch die Erzählungen und „Tatsachenberichte“ der Jahrhunderte, durch die bildende Kunst und andere Darstellungsweisen der Menschheit bis zu den Ursprüngen des Einhornglaubens. Unendlich faszinierend, wie sich dadurch im Buch herauskristallisiert, wie sehr sich die Menschen, auf falsche Fakten stützend, weiter und weiter hangelten, immer fantasievoller wurden, ein Geschöpf immer weiter überhöhten, die Quelle ihres Weiterspinnens aber offenbar keinen Moment in Frage stellen. Seit der Antike konnte auf diese Weise die Existenz eines nicht existierenden Wesens überraschend schlüssig immer wieder nachgewiesen werden. Bis in einem naturwissenschaftlich begründeten Lachanfall, so könnte man sagen, die Einhornblase zu platzen begann. Allerdings wohl hauptsächlich der Glaube, dass sein Horn heilende Kräfte besaß, was man durch Versuchsreihen an vergifteten Tieren widerlegt hatte. Dass die in vielen Apotheken lagernden Einhorn-Hörner endlich als teuer bezahlte Hörner des Narwals enttarnt wurden, muss ein herber Schlag gewesen sein. Für die zahlenden Apotheker, jedoch auch für alle Einhorn-Gläubigen.

Wer sich für die wahre Geschichte des Einhorns interessiert, also eines Wesens, das nie irgendwo existiert hat außer in unserer Fantasie, dort allerdings eine fast ebenso vollständige Klassifizierung erlangte wie tatsächlich existierende Wesen, wird an diesem gründlich recherchierten Buch viel Freude finden. Wir lesen hier von der medizinischen ebenso wie von der religiösen Bedeutung des Einhorns, von seinen magischen wie seinen medizinischen Kräften, von seiner Bedeutung als Jagdtrophäe ebenso wie von seiner überbordenden Präsenz im Jägerlatein. Bis hin zum letzten großen Knaller, dass man mit Herschels Spiegelteleskop ein von Einhörnern besiedeltes Tal auf dem Mond gefunden habe. Soweit ein Artikel in der New York Sun 1835.

Rolings und Weitbrechts spannendes Buch ist gewissermaßen eine wissenschaftliche Abhandlung über eine naturwissenschaftlich glatte Erfindung. Wunderbar, dass sie uns den Glauben an ein mythisch vollkommenes Geschöpf dennoch nicht verhagelt, sondern die Freude an dieser herrlichen Fantasie sogar noch vertieft. Alles in allem verblüffend. 

Bernd Roling & Julia Weitbrecht, Das Einhorn. Geschichte einer Faszination 
Hanser 2023. 176 Seiten. ISBN 978-3-446-27610-9. Für Erwachsene