Wunderwerk Kinderbuch
Was genau ist das eigentlich: Das Kinderbuch? Dieses spezielle Genre, dem ich mich seit so vielen Jahren widme. Diese Art Buch, nach dem wir Eltern fieberhaft suchen, um unsere Jüngsten auf den richtigen Weg zu bringen, um nur ja keinen Anschluss zu verpassen und deren Auswahl wir später gewieften Cover-Herstellern und Marketing-Experten überlassen? Obwohl, wenn es läuft, wie es laufen sollte, es doch so ist, dass das richtige Buch das Kind findet. – – – Müsste ich es in einem Wort zusammenfassen, was in diesem Sinn unter den auch dann noch immens weiten Begriff fällt, ich würde gern von Wunderwerken sprechen. Denn für keine andere Altersgruppe macht man sich – wenn es richtig gemacht wird – die Mühe, so behutsam Wissensstand und Entwicklung des Geists seiner Leser zu beachten. Das (wahre) Kinderbuch möchte Gutes erreichen. Es möchte sich kümmern. Sorge tragen, anspornen, belehren, beschützen, trösten, zeitvertreiben, erziehen – und bei all dem auch noch bestens unterhalten. Wiegenlieder sind eine der ältesten Formen der Kinderliteratur – und ich weigere mich von „primitiver“ Form zu sprechen. Denn bereits im einfachen, bewegenden Reim des Schlaflieds finden wir die ganze Fürsorge des Genres, ja den Gedanken „Kinderbuch“. Was dabei herauskommt, wenn Menschen – oft sind es viele aus verschiedenen Branchen gemeinsam – mit diesen Anliegen ein Kinderbuch schaffen – ist wertvolle Kunst. Weshalb es sich mehr als lohnt, einen intensiven Blick auf die Geschichte und Entwicklung des Kinderbuchs zu werfen.
Die ganze spannende Geschichte des Schaffens wertvoller Bücher für Kinder, angefangen vom ersten Wiegenlied über ABC Tafeln und Fibeln, Märchen, Fabeln, Popp-Up-Bücher und lustige Bastelbögen bis hin zu Sagensammlungen, unvergesslichen Helden, zu Abenteuern in Reihe und zu Sachbüchern, mit denen manch ein erwachsener Gelehrter gern in eine neue Thematik einsteigt (so gut, so achtsam sind sie oft gemacht) finden wir großartig aufbereitet in diesem Prachtband aus dem Gerstenberg-Verlag, der selbst ein Kinderbuchverlag ersten Ranges ist. Hier finden wir nicht nur fundiertes Wissen über die Entstehung und Entwicklung von Kinderliteratur, sondern haben einen prachtvollen Bildband vorliegen, in dem wir viel Unbekanntem, Neuem begegnen, aber auch die besten alten Bekannten aus eigenen Kindertagen wieder treffen. Allein das Durchblättern lohnt, als wären wir in einem Museum der Kinderliteratur gelandet. Ein Eldorado für Freunde des Kinderbuchs, ein Muss für Forscher auf diesem Gebiet. Der umfangreiche Text ist fundiert und gibt faszinierende Einblicke in eine Ecke der Welt, in der Menschen tatsächlich noch bemüht sind, Wertvolles zu schaffen, das möglichst alle erreichen soll. Im Anschluss der Lektüre wünsche ich mir eine Buchhandlung hier und da, eine Bibliothek, in der die Kinderliteratur nicht in einem Teil des Raums zwischen bunten Spielsachen versteckt ist, sondern in der die Werke dieses „Genres“ den ganzen Raum durchdringen. Wäre doch schade, wenn die Wunderwerke an uns Erwachsenen unbemerkt vorbeigingen.
Da das Buch in Auftrag der British Library entstand liegt zugegebenermaßen ein Schwerpunkt auf englischer Kinderliteratur. Doch wird die Weltliteratur ebenfalls umfänglich berücksichtigt – und davon abgesehen, bringen die Engländer seit Generationen tatsächlich die weltbeste Kinderliteratur hervor.
Roderick Cave & Sara Ayad: DIE GESCHICHTE DES KINDERBUCHES IN 100 BÜCHERN.
Gerstenberg Verlag. Erste Auflage 2017.
272 Seiten, 22,5 x 28,5 cm, gebunden, mit Schutzumschlag, farbig illustriert
ISBN 978-3-8369-2123-7