Als ich ein kleiner Junge war

„In diesem Buch will ich Kindern einiges aus meiner Kindheit erzählen. Nur einiges, nicht alles. Sonst würde es eines der dicken Bücher, die ich nicht mag, schwer wie ein Ziegelstein, und mein Schreibtisch ist ja schließlich keine Ziegelei…“

© Atrium Verlag Zürich

So schrieb Erich Kästner selbst im Vorwort zu seiner bezaubernden Kindheitsbiografie ALS ICH EIN KLEINER JUNGE WAR, und selbst wenn er nicht Recht behielte und noch 300 Seiten dazu gepackt hätte, von einem Ziegel erschlagen fühlten wir uns nie und niemals nicht. Ich weiß nicht, wie er es anstellt (doch käme ich natürlich gern hinter sein Geheimnis), aber man liest und liest ihn einfach weiter und weiter, so federleicht, als schriebe er mit etwas anderem als mit Worten und Sätzen. Und wenn das Buch dann aus ist, hat man so viele unvergessliche Bilder im Kopf. Als hätte man einen wunderschönen Film gesehen. Natürlich all die komischen und manchmal auch kummervollen Szenen aus Erich Kästners Kindheit; dann auch die Figuren, die nur leicht überzeichnet scheinen, so leicht, dass man sich sicher ist, sie aus dem eigenen Leben wiedererkannt zu haben; man hat auch den Autor selbst gesehen, der am Fenster nachsinnt und schreibt und sich nur allzu gern auch mal ablenken lässt, und natürlich hat man Dresden gesehen. Kästners Geburtsstadt. In all ihrer Pracht, mit all ihren von Kindern heimgesuchten Ecken und Plätzen – und dann noch in Schutt und Asche. Nein, von letzerem erzählt Kästner nur. Sehen lässt er uns das Schreckliche nicht, weil es sich ja um ein Buch für Kinder handelt, und, wie er ganz weise zu Beginn schon anmerkt: 

„Nicht alles, was Kinder erleben, eignet sich dafür, dass Kinder es lesen.“

Gern streiche ich mir in Büchern, die ich mag und die mir gefallen, die klügsten und die schönsten Sätze an. In diesem Buch habe ich zunächst das gesamte Vorwort angestrichen. Es ist das Vorwort aller Vorworte, und warum ein Vorwort unbedingt sein muss, erklärt Kästner selbst, wie man es schöner nicht erklären könnte. Dann habe ich so ziemlich alle anderen Sätze des Buchs auch angestrichen. Und dann über viele Seiten gar nichts mehr — das waren die Passagen, wo ich dann einfach selbst mittendrin war in der Geschichte und längst nicht mehr spüren konnte, dass ich ja eigentlich lese. Die fliegenden Stellen, die nun als Filme in meinem Herzen liegen.

Ihr merkt, ich bin ganz außerordentlich glücklich, dass es dieses Buch gibt. Wenn es wirklich für Kinder geschrieben ist, ist es trotzdem auch für mich geschrieben. Und bestimmt auch für euch. Und ganz insbesondere ist es für Mamas geschrieben. Denn letzten Ende ist dieses Buch die Liebeserklärung eines Sohnes an seiner Mutter.

Man merkt, dass Erich Kästner Kindern noch viel mehr zugetraut hat zu verstehen, als heutige Autoren das tun. Er spricht mit ihnen auf Augenhöhe und fällt dazu nicht auf die Knie. 

Ich merke, dass Erich Kästner nicht nur ein großartiger Kinderbuchautor und Erzähler für Kinder war, sondern einer der allergrößten überhaupt. Klug, geschmeidig, humorvoll, bescheiden. Und dabei ist jedes Wort interessant, jeder Satz weise, jede Szene unvergesslich. 

Nun weiß ich, warum ich mich schon als Vierjährige in seine Erzählung von Pünktchen und Anton verliebte, von der ich damals noch nicht viel verstand, aber einfach nicht genug bekommen konnte. Es ist der Film, den er uns in den Kopf zaubert. In einfachen Worten und einfach scheinenden Weisheiten. 

LESEWEIS® gefällt an diesem Buch wirklich alles. Insbesondere aber, dass es mir einen der wunderbarsten Erzähler für Kinder wieder nah gebracht und mich auf die Idee gebracht hat, wieder mehr, viel mehr von diesem klugen Kopf zu lesen.

Erich Kästner: ALS ICH EIN KLEINER JUNGE WAR

Atrium Verlag Zürich, 2018. Erstveröffentlichung 1957.

Illustriert von Horst Lemke

Hardcover. 240 Seiten. Ab 9 Jahren

ISBN: 978-3-85535-611-9