Rauschgoldengel

von Konstanze Keller

Fritz war ein seltsames Kind. Besonders, was Weihnachtsmärkte anging. Während die anderen Kinder, seine Geschwister und zahlreiche Cousinen und Cousins, den alljährlichen Familiengang über den Leipziger Christkindlsmarkt, der traditionell am 2. Advent stattfand, mit einer Vorfreude und zappeliger Aufregung erwarteten, die der des Heiligen Abends glich, machte Fritz sich gar nichts aus dem Besuch. Schon als Zweijähriger hatte er sich lispelnd nur über „talte Füße“ beschwert und weinend ausgespuckt, als er in einen der verlockend rot kandierten Äpfel biss, die Mutter ihm an einem der buntesten, süßlich duftenden Stände gekauft hatte. Zuckerzeug war nichts für ihn. Doch auch der Lichterglanz der voll bestückten Buden, ihre baumelnden, wonneverheißenden Auslagen, die honigsüßen Düfte und magenwärmenden Wohlgerüche, die Weihnachtslieder der klaren Stimmen des kirchlichen Knabenchors, die am übergroßen Adventskranz im Zentrum des weihnachtlichen Marktes sangen, oder die Posaunenklänge vom Rathausbalkon her, die ihm in den Ohren schmerzten, als würde das jüngste Gericht eingeläutet, vergnügten oder rührten Fritz nicht. Während die meisten anderen, während sie diese nur vorübergehend entstandene Budenstadt voller Hütten, Lädchen, Stände und Gässchen staunend durchschritten und nach jeder Ecke neue Wunder entdeckten, schon bald von dem alles überwältigenden Weihnachtsgefühl durchflutet wurden, diesem Gefühl, das man, je älter man wird umso sehnlicher herbeiwünscht, während es Kinder nur so anzufliegen scheint, dieses Gefühl, das sich wie zartes Rieseln von warmen, feurig blitzenden Funken im Herzen ausbreitet und zur unerklärlichen Weihnachtsfreude wird… — während also fast alle anderen auf dem Weihnachtsmarkt diesem guten, traditionsreichen Glücksgefühl frönten, ließ Fritz sich nicht berauschen.

Ihn erreichte kein fein geschnitztes Engelsorchesterchen, keine finster dreinschauende Nussknackerarmee, keine kreiselnden, funkelnden Glaskugeln, keine aus feinster Wolle gestrickten Puppenmützchen, Mäntelchen und Handschühchen. Und auch von den Lebkuchenherzen, den Anisplätzchen, dem Magenbrot, den Tütchen mit gebrannten Mandeln brauchte man ja nur eine Portion um versorgt zu sein. Auch mit sieben, acht Jahren bekam er zwischen all den Mänteln und Taschen noch immer kalte Füße, was kein Wunder war, da man in dem Gedränge ja kaum vorankam. Allein der würzige Nadelduft, der von den Standorten der Weihnachtsbaumverkäufer in seine kleine Nase stieg, machte Fritz froh. Er schritt gern aus. Was hier nicht ging. Er war gern in freier, lachender Bewegung. Suchte seine Pfade gern selbst. Zwischen Wurzeln, Nadelboden und riesigen Stämmen. Er entdeckte gern Tiere, die nicht aus Holz geschnitzt waren, die nicht zwischen Kerzen präsentiert wurden, sondern sich aufmerksam im Unterholz versteckten und die er beobachten konnte, wenn er ganz, ganz leise in all der ihn umgebenden Herrlichkeit eines stillen Waldes verharrte. 

Am dritten Adventssonntag zog die Großfamilie stets geschlossen in den Wald. Da ging Fritz vornheraus mit leuchtenden Augen und glühenden Bäckchen und einem Vorfreudengefühl übermächtiger Größe in seiner Kinderbrust. Auf dem Weihnachtsmarkt langweilte er sich. 

Doch da er ein braves Kind war, hielt er geduldig aus und ließ den anderen ihre Freude. Das fröhliche Geplapper der vielen Menschen, die entzückten Ausrufe, wenn seine Schwestern gläsernen Baumschmuck bewunderten, das Gefachsimpel der Herren an den Glühweinständen, das Reden der Frauen über die schon bewältigten, vor allem aber die noch anstehenden Vorbereitungen für das Fest, Drehorgelgeleiher und Flötenmusik wurden für ihn zu einem einzigen Hintergrundrauschen, dessen Ende man abwarten musste, während man die Thüringer Rostbratwurst knabberte, die einen wenigstens von innen wärmte und den Blick hier und da hin schweifen ließ, ohne zu erwarten, dass man etwas wahrhaft Interessantes entdecken könnte. 

Doch heute entdeckte Fritz etwas Interessantes. Oder glaubte zumindest, gerade etwas gesehen zu haben. Flatterte da nicht ein Vogel auf dem mit Tannenzweigen dicht belegten Vordach der Würstchenbude? Flatterte, als hätte er sich verheddert und käme nicht mehr los? Da niemand auf ihn achtete, drängte Fritz sich zwischen ein paar Mänteln hindurch, um dem Stand näher zu kommen. Ja, dort oben drauf zappelte etwas, nicht sehr groß, mit Füßchen und Krallen und Flügeln. Doch schon schien der kleine Vogel sich befreit zu haben und hob ab, just als Fritz den Stand erreicht hatte. Die flatternde Bewegung im Auge behaltend folgte Fritz dem kleinen Wesen bis zu einer weiteren Bude, wo der Vogel sich offenbar erschöpft niederließ. Auf dem Dach der Pyramiden-Bude war es sehr dunkel, doch im von sich kreisenden Schatten durchbrochenen dämmrigen Kerzenschein sah Fritz die kleine Gestalt des Vogels. Sie schimmerte sanft in ihrer Bewegung. Offenbar putzte der Vogel sich, glättete seine Flügel. Fritz war fast heran, war sogar auf ein nahes Fass geklettert, als der Vogel erneut aufflog und ein paar Hütten weiter landete, gleich darauf auf ein paar Tannenspitzen hin und her hüpfte und sichtbar verwundert nach unten schaute, weil diesen Tannen die ausladende Herrlichkeit ihrer Äste fehlte. Diese waren mit aus Schnüren geknüpften Netzen zusammengebunden. 

Fritz folgte dem Vogel, wohin der sich über den Köpfen und Budendächern des Weihnachtsmarktes auch aufmachte. Doch immer, wenn der Junge nah genug heran war, um zu bestimmen, was für ein Vögelchen sich hierher verirrt hatte, flog der Kleine schon wieder auf und davon zum nächsten Stand. Fritz standen vor Enttäuschung schon Tränen in den Augen, als er, bereits weit ab von dem Rostbratwurststand, den Vogel mitten hinein in eine sanft leuchtende, eher bescheidene Auslage flattern und darin untertauchen sah. Hier draußen am Rande des großen Markts, gewissermaßen in äußerster Reihe, standen die weniger herrlichen Buden. Es roch nach Schnaps und billigem Tabak und Fischbrötchen. Es war kälter als im leuchtenden Kern des Geschehens. Die Musik klang von weit her. Und Fritz überkam vage das ungute Gewissen, dass seine Eltern es nicht so gern gesehen hätten, wie er hier ganz allein unterwegs war, wo keine der vielen dunklen, in Mäntel und Hüte gehüllten Gestalten zu Fritz’ großer Familie gehörten.

Fritz beschloss nur noch schnell zu der kleinen Bude hin zu laufen, in die sich der Vogel geflüchtet hatte und dann schnell zu seiner Mutter und den anderen zurückzukehren. Vielleicht konnte er auf diese Weise noch herausfinden, um was für einen Vogel es sich handelte. Eine Amsel? Deren blanke, schwarze Augen er so liebte? Oder doch einen Gimpel mit herrlich leuchtend roter Brust? Einen winzigen Zaunkönig? Denn er war sehr klein gewesen, fast kleiner als ein Spatz, den das Weihnachtsmarkttreiben ohnehin längst nicht so geschreckt hätte. Flugs stand Fritz vor der kleinen niedrigen Bude, an deren Lade sich niemand drängte. Der Stand war sehr niedrig, so dass Fritz auf Zehenspitzen gut hineinschauen konnte. Ein einsamer Mann saß darin mit einer hässlichen Mütze auf dem Kopf, die seine Ohren mit ihren überlangen Klappen sicher gut warm hielt. Seine Handschuhe waren löchrig, und er schaute von seiner Arbeit auf, als Fritz seinen Lockenkopf über den Tresen streckte. 

„Kann ich den Vogel sehen?“, fragte das Kind.

„Vogel?“, fragte der Mann.

Fritz nickte. „Er ist genau hier rein geflogen.“

„So?“ Der Mann schaute sich um. Zuckte die Achseln.

„Ich möchte den Vogel sehen“, wiederholte Fritz, und fast wurde seine Stimme jämmerlich. Fritz war kein quengelndes Kind, aber hier am sicher unerlaubten, dunklen Rand des Marktes, bei einem Fremden, nach der vergeblichen Verfolgung auf dem ohnehin ungeliebten Weihnachtsmarkt wurde es auch für den braven Fritz fast zu viel. „Ich hab ihn hier rein fliegen sehen“, beharrte er. 

Der Budeninsasse machte mit seinen Händen eine ausladende Geste und wies auf die vielen geflügelten Wesen, die im Licht der einen Kerze den Ladentisch bevölkerten. Fritz fielen sie erst jetzt auf. Goldschimmernde Engel. Der Mann legte ein kleines Hämmerchen beiseite, schaute den Jungen an und brummte: „Bei mir gibt’s nur Engel — keine Vögel.“

Fritz spürte ein seltsames Gefühl in sich aufsteigen. Ein ärgerliches Gefühl. Und er legte die kleine Stirn in für einen so kleinen Kerl beträchtliche Falten. „Er ist aber hier rein geflogen. Ich hab’s gesehen! Und Engel können nicht fliegen.“

„Ach was!“ Der Mann hob belustigt die Augenbrauen. „Engel können nicht fliegen?“

Mit ernster Miene und fest zusammen gepressten Lippen schüttelte Fritz den Kopf. „Und solche Engel da schon mal gar nicht“, presste er schließlich hervor. „Das sind Spielzeugengel.“

„Oh, hört, hört“, spielte der Budenbesitzer den Empörten. „Bloß Spielzeug! Mein Junge — das sind Rauschgoldengel. Echte Rauschgoldengel. Ich klopfe das Rauschgold selber platt und forme und beziehe die Engel mit meinen geschickten Fingern…“, die er nun hob und samt Löchern in den Handschuhen dem Kleinen zuwinkte.

Enttäuscht ließ Fritz sich von seinen Zehenspitzen zurücksinken. Sein Gesicht verschwand zur Hälfte wieder aus dem Blick des Rauschgoldengel-Herstellers. „Ich mag Vögel viel lieber als Engel“, murmelte er von da unten. 

„Tatsächlich? Warum?“

Fast schon hatte Fritz sich abgewandt, um sich zurück zu seiner weihnachtsbeseelten Familie aufzumachen. Doch auf diese Frage hin drehte er sich noch einmal um. „Warum ich Vögel lieber mag?“

„Ja, ja, warum, mein Junge?“

„Vögel sind echt. Und singen so himmlisch. Engel singen bloß wie Menschen. Das ist doch nichts Besonderes. Vögel fliegen, weil es ihnen so viel Freude macht. Engel haben Flügel, um groß mit ihnen herum zu stehen. Ich glaub, Engel sind bloß erfunden.“

„So so… glaubst du das…“ Der Engelmacher schaute den kleinen Blondkopf mit erwachtem Interesse an. „Wie kommst du darauf, dass Engel bloß erfunden sind?“

Fritz hatte seine Kinderstirn erneut in tiefe Falten gelegt. Dann zeigte er auf die schimmernde Parade von Rauschgoldengeln auf der Auslage. „Das sieht man doch. Engel sehen aus wie Menschen mit Flügeln. Und nicht wie was eigenes. Ich glaube, dass die Menschen sie sich ausgedacht haben, weil sie selbst so gern fliegen könnten.“

„Hmmm…“ Der Rauschgoldengel-Verkäufer schien nachdenklich. „Und deshalb singen Engel auch nicht so gut wie deine…, wie die Vögel?“

Fritz nickte. „Die Vögel, die hat nämlich der liebe Gott erfunden.“

„Ach so…“ Simon Gutekönig — so hieß der Mann mit den durchlöcherten Handschuhen — versank noch mehr in Gedanken. Ein seltsames Kind war ihm da fast in seine Bude gestürmt. Die Sachen, die es sagte, waren auch seltsam und waren es doch irgendwie auch nicht. Nein, sie… sie waren alles andere als seltsam. Um im Kopf des Mannes — oder war es in seiner Seele? — begann noch im selben Augenblick ein Gedanke Form anzunehmen, der nur Momente zuvor nicht da gewesen war. Ein Gedanke. Noch nicht ganz eine Idee. Vielleicht auch nur so ein plötzliches, aufgeregtes, kribbeliges Gefühl, das sich stets zuerst einstellt, wenn sich im Kopf eines Künstler etwas Neues zu regen beginnt. Wenn ein winziges Lichtfünkchen keimt, das zu etwas Großem, Leuchtenden werden könnte. Simon Gutekönig hatte diese aufgeregte winzige Bewegung in seinem Kopf — in seiner Seele — schon lange nicht gespürt. Doch nun war sie da. 

„Die Vögel hat der liebe Gott erfunden…“, murmelte er vor sich hin. 

„Können Sie den Vogel, der in Ihre Bude geflogen ist, denn nicht sehen?“, fragte Fritz mit einem letzten Hoffnungsschimmer. „Ich bin ihm den ganzen Weg von der Bratwurstbude gefolgt.“

Simon Gutekönig ergriff den Kerzenständer mit der brennenden Kerze vom Auslagentisch und leuchtete damit tief und hoch seine ganze Bude aus. Bis in den letzten Winkel des spitzen Daches hob er den Kerzenschein mit ausgestrecktem Arm und sogar unter den Tresen. Kein Vogel. Nur ganz hinten in der Ecke lag eine sehr kleine Ausgabe seiner prächtigen Rauschgoldengel, kaum größer als ein Spatz. Er hob ihn auf. 

„Nein, tut mir leid, mein Junge“, kam er ächzend wieder nach oben. „Kein Vogel hier drin. Du musst dich getäuscht haben.“

Fritz schniefte und zuckte mit den Schultern. „Dann geh ich mal lieber wieder. Sonst suchen die andern mich.“

„Ja, ja, geh lieber. Nicht, dass sie sich Sorgen machen.“ Simon Gutekönig brauchte jetzt keine Gesellschaft mehr. Er hatte seine Idee, die immer eindringlicher pochte. Er musste sie endlich in Ruhe einlassen und genau betrachten. Das Vorgefühl ließ seinen Puls schon höher schnellen als er das seit Jahren gespürt hatte. Ja, es war, als wolle das Leben selbst zu dem alten Rauschgoldengelmacher zurückkehren. Doch noch einmal riss er sich selbst aus seinen aufwühlenden Gedanken und rief diesem kleinen Jungen hinterher. 

„Hee, warte mal noch, Kleiner!“

Fritz drehte sich um. Der Mann mit den Löchern in den Handschuhen kam umständlich aus seiner Bude und eilte ihm mit ein paar Schritten hinterher. Man konnte sehen, dass er stundenlang in seiner Bude gesessen hatte, so steifbeinig kam er an Fritz heran. 

„Der ist für dich.“ Und er reichte Fritz den kleinen Rauschgoldengel, den er auf dem Boden in seiner Bude gefunden hatte. „Vielleicht könnten Engel ja doch fliegen. Oder Vögel sich verwandeln. Wer weiß?“

Fritz’ praktische kleine Hand nahm das goldene Flitterwesen gutmütig entgegen. 

„Wenn du ihn selbst nicht brauchst, kannst du ihn ja zu Weihachten verschenken“, empfahl ihm der Mann — und in seinen Augen funkelte eine Fröhlichkeit, die vorher nicht da gewesen war. „Du kannst ja nächstes Jahr wiederkommen. Vielleicht hab ich dann was für dich, was dir besser gefällt.“

„Dankeschön“, sagte Fritz artig. Und: „Frohe Weihnachten.“ Wie es sich gehörte. 

Und dann hüpfte er rasch zurück zu dem Stand im bunten Gedränge, wo die Knaben immer noch sangen, die Mandeln immer noch dufteten, die Herren immer noch bei Glühwein und Bratwurst spekulierten und die Frauen noch immer die Festtagspläne besprachen. Niemand hatte Fritz’ Fehlen und seinen kleinen Ausflug zum Rauschgoldengelmacher bemerkt. Simon Gutekönig aber vergaß den kleinen Jungen und den winzigen Moment, in dem er an seine Bude geflattert gekommen war, nie mehr. Er brauchte nur wenige Tage, bis er eine erste Probe zu seiner Idee in die Tat umsetzte. Er entwarf einen kleinen Vogel und verkleidete ihn mit Rauschgold. Bald schon gesellte sich zu dem ersten Rauschgoldvögelchen ein zweites, ein drittes. Manche verzierte er mit winzigen Perlen, danach kamen echte Vogelfedern hinzu. Bis heute produziert die Firma Gutekönig & Söhne die funkelnden Weihnachtsvögel, exportiert sie in alle Welt. Vielfach werden sie kopiert, billig oder gut, doch die Originale werden immer noch an einem Stand auf dem Leipziger Weihnachtsmarkt verkauft. Dieser befindet sich mittlerweile allerdings im Zentrum des Markts, nahe dem Verkaufsstand für Thüringer Bratwurst. Der Stand hat sich außerdem vergrößert und ist zu einer begehbaren Hütte geworden, in der es zwitschert und funkelt, wenn man sie betritt. Die vielen fleißigen Rauschgoldvogel-Verkäuferinnen tragen zarte weiße Fingerhandschuhe — und in keinem befindet sich auch nur das kleinste Löchlein. 

Fritz verschenkte seinen Rauschgoldengel nicht. Wenn er auch sonst nicht viel von Engeln hielt — diesen behielt er. 

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