Kirsten Boie im Gespräch mit Konstanze Keller

Konstanze von LESEWEIS® :

Liebe Kirsten Boie,

wir sehen uns bei LESEWEIS® mit Vorliebe solche Bücher gern an, die von Frieden und sonnigen Abenteuern erzählen, von Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Sehnsucht in blauen Himmeln. Zu jedem Begriff fallen mir Titel ein, die du geschrieben hast. Das sonnige Sommerby oder die friedvoll-fröhlichen Geschichten vom Möwenweg, ich denke an die lustigen und dabei aufrührenden Geschichten des kleinen Ritter Trenk oder von Detektiv und Gentleman Thabo, in denen die Gerechtigkeit zwischen den Zeilen aufbegehrt. Ganz zu schweigen von „Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“, bei deren Lektüre man nach Gerechtigkeit schreien möchte, oder aber „Ringel Rangel Rosen“, wo einem manchmal nichts bleibt als diese unendliche Sehnsucht… Eine Autorin – und so viele verschiedene Stimmen. Das fasziniert mich an deinem Werk vielleicht am meisten. Wie kommt es, dass du dir auf so unterschiedliche Weise in der Kinder- und Jugendbuchwelt Gehör verschaffst?

Kirsten Boie:

Erstmal: Danke! Meine Antwort ist aber vermutlich leider unbefriedigend, nämlich: Ich weiß es nicht! Mir fallen einfach Themen ein, manchmal (eher selten) auch gleich Ansätze zu Geschichten; und damit verbunden ist dann immer schon eine bestimmte Altersgruppe, für die das Buch gedacht sein soll. Das suche ich mir nicht aus: Das fällt mir einfach gleichzeitig ein. Und jede Geschichte verlangt natürlich nach einem bestimmten Ton, der dazu passt, der nötig ist, um das Thema für die jeweilige Zielgruppe spannend und verständlich genug erzählen zu können. Auf diesen Ton muss ich allerdings warten – wenn ich weit genug fortgeschritten bin mit der inhaltlichen und formalen Planung (dazu schreibe ich Listen und zeichne unordentliche Mindmaps, die ich in der Regel dann auch wieder verwerfe, zumindest in Teilen), dann fällt mir der erste Satz ein. Und der setzt dann den Ton für alles Weitere. – Ob das dann immer so stimmt, weiß ich nicht. Aber es ist zumindest die einzige Art, wie ich arbeiten kann!

Konstanze von LESEWEIS® :

Eine äußerst spannende Antwort, die von Kreativität und intensiver Arbeit zugleich erzählt. Mir fällt spontan Seeräuber Moses ein. „Die Ideen kommen angeflogen“ – also das Thema verbunden mit der Vorstellung, wem du es nahebringen willst. Den Ton und die Geschichte entwickelst du dann in einem längeren Prozess. Du weißt genau, wie du was erzählst – und wählst bei Seeräuber Moses beispielsweise einen äußerst liebevollen Ton, der viel erklärt, dabei aber spannend ein Thema ausbreitet, das nicht verschont, sondern die Erwartungen der Kinder an das raue Leben der Piraten erfüllt, sie dabei jedoch in der wohligen Sicherheit lässt, dass sie gerade einem Buch lauschen. Das ist überaus professionell. Hast du von Anfang an so gearbeitet? Sind dir schon immer Geschichten eingefallen? Wolltest du schon immer schreiben? War es schon als Kind dein Wunsch Schriftstellerin zu werden? Oder kam auch diese erste Idee eher spontan und unvorhergesehen?

Kirsten Boie:

Geschichten sind mir eingefallen, solange ich denken kann – beim Ausräumen der Wohnung meiner Eltern habe ich z.B. eine Geschichte gefunden, die ich mit fünf Jahren geschrieben habe. Natürlich wollte ich darum immer Bücher schreiben – ich habe als Kind gelesen wie verrückt, beim Schreiben die unterschiedlichsten Autoren imitiert, bis ich dann mit ungefähr 15 erfahren habe, dass nur sehr wenige Autoren vom Schreiben leben können. (Das stimmt übrigens bis heute, da herrschen – vor allem seit Harry Potter – sehr merkwürdige und unrealistische Vorstellungen.) Und da ich nicht aus einer wohlhabenden Familie komme, war für mich wichtig, dass mein Beruf mich auch würde ernähren können. Darum habe ich dann den Traum vom Schreiben aufgegeben und bin Lehrerin geworden, was ich sehr gerne war. Aber als ich dann nach der Adoption unseres ersten Kindes nicht mehr als Lehrerin arbeiten durfte – das Jugendamt hat damals Müttern bei der Adoption verboten, berufstätig zu sein -, sind mir die ersten Sätze meines ersten Buches eingefallen. Das war dann „Paule ist ein Glücksgriff“, eine Adoptionsgeschichte.

Konstanze von LESEWEIS® :

Deine Antwort führt mich gleich zu mehreren weiteren Fragen. Natürlich möchte ich nun unwahrscheinlich gern wissen, wovon die Geschichte handelt, die du mit fünf geschrieben hast. Welche Autoren haben dich seit dieser Zeit besonders geprägt? Und welches Kinderbuch, das du nicht selbst geschrieben hast, betrachtest du bis heute als ganz besonderen Schatz?

Kirsten Boie:

Die Geschichte hieß „GISULA UNT DER BRANT“ und war genau zwei Sätze lang. Aber angekündigt wurde schon eine Fortsetzung: „DER SWEITE BANT HEIST GISULA BEI DEN TIREN“. Dabei weiß ich nicht mal, woher ich damals das Prinzip der Serie überhaupt kannte! – Und welche Autoren mich geprägt haben… Ich bin ja immer noch überzeugt, dass für Kinderbuchautoren am entscheidendsten die Autoren sind, die sie als Kinder geliebt haben. Bei mir sind das z.B. Lindgren, Kästner, aber auch – ja! – Blyton und Karl May. Inzwischen gibt es so viele großartige Kinderbuchautoren, in Deutschland und weltweit, aber ich glaube, die „prägen“ mich nicht mehr. Vielleicht lerne ich manchmal etwas von ihnen – das hoffe ich doch! – ebenso wie von den Autoren von Erwachsenenbelletristik, von der ich ja eher mehr lese als Kinderliteratur. (Ist das falsch für jemanden, der für Kinder schreibt? Mir ist es jedenfalls einfach wichtig.)

Konstanze von LESEWEIS® :

Ich glaube sogar, dass man gar nicht viel lesen muss, um eine gute Schriftstellerin zu sein… Das ist nun vermutlich nicht der beste Satz, den eine Leseförderin äußern sollte, aber um wirklich Eigenes zu Papier zu bringen, ist das Leben, sind die eigene Kindheit und all die Erfahrungen, die man gemacht hat, viel, viel wichtiger. Der Wunsch, zu erzählen, kommt sicher davon, dass einem in der Kindheit viel erzählt wurde, und von der herrlichen Erfahrung, die man dabei gemacht hat. Im Glücksfall sind das Kinderbücher, die einem vorgelesen wurden, bei mir waren es einfach nur Geschichten von der Welt, die zahlreiche Verwandte unermüdlich erzählt haben. Die Autoren, die du nennst, und die alle vier wundervoll sind (!), entdeckte ich mit Begeisterung erst viel später. Du hast von PAULE IST EIN GLÜCKSGRIFF gesprochen, deinem ersten Buch (von GISULA UNT DER BRANT einmal abgesehen). Hier schreibst du, inspiriert von dem, was in deinem Leben gerade wirklich passiert ist – von der Adoption eines Kindes. Sind Erlebnisse aus deinem Leben immer wieder Antrieb für deine Geschichten?

Kirsten Boie:

Wie schön! Da kann ich nun wirklich mal von Herzen widersprechen, zumindest dem ersten Satz. – Aber vorher stimme ich erst noch mal zu: Ja, natürlich ist es ganz, ganz wichtig, dass man als Kind – aber auch noch als Erwachsener – reichlich Erfahrungen gesammelt hat, auf die man zurückgreifen kann: Wenn das fehlt, entsteht, was ich Buch-Bücher nenne: Bücher, die auf anderen Büchern fußen, die auf anderen Büchern fußen, die auf Büchern fußen… Und das wirkliche Leben hat absolut nichts damit zu tun. (Kinder lieben solche Bücher oft trotzdem. Insofern darf es sie gerne geben. Aber zwischendurch, finde ich, braucht man dann auch mal wieder ein paar erfahrungsbasierte Bücher, auf denen dann Bücher fußen können, auf denen Bücher fußen, auf denen…). – Aber (und jetzt kommt mein Widerspruch) ordentlich gelesen haben sollte man als Autorin doch trotzdem, denke ich: Woher nimmt man denn sonst die vielen möglichen Formen, Handlungsstrukturen, Möglichkeiten, einen Charakter zu erzählen, Möglichkeiten, mit Zeiten zu arbeiten, mit wechselnden Perspektiven…. Woher nimmt ein Autor all das? Entspringt es eines Tages einfach seinem eigenen Hirn, ohne jede Vorerfahrung? Eher nicht! Ich habe ja in afrikanischen Ländern Workshops für Autoren zum Schreiben von Kinderliteratur gegeben, die es da bis heute so gut wie gar nicht gibt: Und da erlebt man dann, dass den Autoren genau dieses im Laufe der Lesejahre unbewusst abgespeicherte Handwerkszeug fehlt. Oder man erlebt, wie genau das eine Buch, die eine Serie kopiert wird, die ein Autor gelesen hat. Dazu gibt es übrigens (bei YouTube sogar mit deutschen Untertiteln) einen wunderbaren Vortrag der großartigen nigerianischen Autorin Chimamanda Ngozi Adichie: „The Danger of a Single Story“. Es lohnt sich! https://www.ted.com/talks/chimamanda_adichie_the_danger_of_a_single_story?language=de

Konstanze von LESEWEIS®:

Genau, liebe Kirsten Boie, danke für den herzhaften und sehr leseweisen Widerspruch! – und meinerseits volle Zustimmung in jedem Punkt! Gelesen haben sollte man, so viel wie möglich und so viel Verschiedenes wie möglich – und das nicht nur, wenn man eines Tages Autorin werden möchte. Ebenso wie man möglichst viel erlebt haben sollte. Wo sonst schöpft man das Leben? Und, ja natürlich, das Handwerkszeug. Den Ausdruck von den BuchBüchern hast du mir jetzt geschenkt, ich ahne, was du damit beschreiben möchtest. Und genau deshalb denke ich auch, dass es als Kinderbuchautorin dann nicht mehr so wichtig ist, ständig nach recht und links zu gucken, was andere Kinderbuchautoren schreiben (um nur ja keinen Trend zu verpassen). Oder muss man die Szene sehr gut kennen, um in der Kinderbuchbranche heute erfolgreich zu sein? Als Newcomer vielleicht noch? 

Kirsten Boie:

Das kann ich ganz schlecht einschätzen. Ein bisschen sollte man sich schon auskennen, denke ich – das gebietet allein die Höflichkeit. Zu sagen, „mich interessiert überhaupt nicht, was die anderen schreiben“ fände ich schon arrogant. Aber ob es wirklich hilft, Trends zu kopieren, anstatt das zu schreiben, was einem selbst wirklich am Herzen liegt, weiß ich nicht, nicht mal bei Newcomern: Ihren Durchbruch haben Autoren ja in der Regel gerade mit vollkommen neuen Ideen gehabt – denken wir an Lindgrens Pippi, Paul Maars Sams oder Rowlings Harry Potter. 

Konstanze von LESEWEIS®:

Hoch interessant, was du über deine Workshops in Afrika und die Gefahr der „Single Story“ schreibst. Wie denkst du in diesem Zusammenhang darüber, dass wir in unserer Kinderbuchwelt immer mehr klar definierte „Mädchenbücher“ und „Jungenbücher“ haben, und das nicht nur vom angeblich typischen Thema her, sondern auch von der ganzen Aufmachung, Covergestaltung, Farbgebung, Ausstattung? Führt das nicht gerade zu sehr einseitigen Leseerfahrungen? 

Kirsten Boie:

Das finde ich sehr ambivalent. Zum einen wollen wir ja nicht, dass Mädchen und Jungen so auf ihre traditionellen Rollen festgelegt werden, und gerade Bücher sollten ihnen die Möglichkeit geben, anderes zu entdecken. Gleichzeitig kann es aber auch eine Chance sein, eher buchferne Kinder abzuholen: Wenn ein Buch pink mit Glitzer ist (uuuah!), dann greift vielleicht auch mal eine Achtjährige zu, die sonst kein Interesse an Büchern hat. Und wer weiß, vielleicht geht es von da aus dann weiter? Wir haben ja (vermute ich einfach mal) alle unsere Lese-Karriere irgendwann mit der Lektüre von eher Trivialem begonnen, wie das bei mir war, hatte ich ja schon erzählt. Nur: Es sollte eben nicht nur diese Bücher geben, sie sollten den Markt nicht dominieren und Autoren und Verlage sollten den Mut auch zu Büchern haben, die darüber hinausgehen und bei denen es vielleicht sogar „um etwas geht“. Mit der Mischung könnte ich dann ganz gut leben.

Konstanze von LESEWEIS®:

Wie bist du überhaupt nach Afrika gekommen? Viele deiner neueren Bücher erzählen mitten aus dem Leben Afrikas. Wie hat das angefangen? 

Kirsten Boie:

Seit inzwischen elf Jahren unterstütze ich ein AIDS-Waisenprojekt, das ca. 4000 Kinder in Swasiland versorgt, und mit meiner Möwenweg-Stiftung tragen wir dieses Projekt sogar seit 2014 (gemeinsam mit der Thomas Engel-Stiftung in Fulda). Wer mehr darüber wissen möchte: www.moewenweg-stiftung.de. In diesem Zusammenhang bin ich jedes Jahr mindestens einmal in Swasiland, besuche unsere Betreuungshäuser, spreche mit den Betreuerinnen, mache Quatsch mit den Kindern, führe Verhandlungen mit Ministerien und rede mit anderen NGOs wie UNICEF und Ärzte ohne Grenzen über Kooperationen. Ich kenne mich da also einigermaßen gut aus, zumal ich auch noch täglich online die Tageszeitung des Landes lese. Und da ist es ja klar, dass ich irgendwann einfach Bücher schreiben musste, die in so einem Umfeld spielen! Immerhin hat es sechs Jahre gedauert, bevor ich das getan und über meine Erfahrungen gesprochen habe. 

Konstanze von LESEWEIS®:

Ist es ein Ziel von dir, nicht nur unseren Kindern Afrika näher zu bringen, sondern auch dort an einer aktiven Kinderbuchszene mitzuwirken?

Kirsten Boie:

Mit den Thabo-Büchern wollte ich gerne einmal andere Kinderbücher über Afrika schreiben, als sie bisher üblich sind: Bücher, in denen afrikanische Kinder nicht immer nur als bedauernswerte Opfer erscheinen, sondern clever sind, tough, witzig: Eben so, dass die deutschen Leser sie gerne kennenlernen und bei ihnen mitmachen würden. Afrikanische Kinder als Identifikationsfiguren. – Und nein, ich denke, es wäre größenwahnsinnig zu glauben, ich könnte am Aufbau einer Kinderliteraturszene in Afrika wirklich aktiv mitwirken. Damit die entstehen kann, braucht man ja nicht nur die Bücher, sondern auch die Verlage (wer sollte die gründen, wenn es doch bisher keine Käufer gibt), Vertrieb und Buchhandel (und wer sollte eine Buchhandlung gründen, wenn es doch bisher…). Es gibt einige spendenfinanzierte Verlage z.B. in Kenia und Ruanda, und eine nigerianische Autorin aus meinem Workshop in Johannesburg im letzten Februar reist z.B. mit einem Koffer voll mit ihren selbst verlegten Büchern von Schule zu Schule und verkauft sie da (das funktioniert super, sagt sie) – aber die wirkliche Chance liegt in digitalen Formaten, im Lesen auf dem Handy. Da gibt es auch schon einige tolle Ansätze. (Und wer das spannend findet, kann auf meiner Homepage etwas dazu lesen, z.B. Lesen ohne Bücher  http://www.kirsten-boie.de/material/reden-aufsaetze/5529-vortrag_kinderbuchhaus_2016.pdf ) Für „unsere“ Kinder habe ich zumindest zwei Bilderbuchanthologien in der Landessprache siSwati zusammengestellt und wir sind außerdem gerade dabei, gemeinsam mit World Vision „Reading Clubs“ in unseren Betreuungshäusern zu installieren. Aber das allein reicht ja noch lange nicht – und es ist sicher noch ein weiter Weg!

Konstanze von LESEWEIS®:

Für den wir dir weiterhin viel Glück wünschen – und den wir neugierig verfolgen werden.

Vielleicht kannst du uns ganz zum Abschluss noch verraten, was dein größter Traum für die Zukunft des Lesens ist? 

Kirsten Boie:

Mein ALLERGRÖSSTER Traum ist, dass überhaupt ALLE Kinder in Deutschland tatsächlich lesen lernen – seit dem vergangenen Dezember (IGLU-Studie) wissen wir ja, dass das der Schule bei fast einem Fünftel nicht gelingt. Was das für diese Kinder und später Erwachsenen in einem Land wie Deutschland bedeutet, möchte ich mir nicht ausmalen; was es für die Gesellschaft bedeutet, übrigens auch nicht.

Danach würde ich mir wünschen, dass JEDES Kind in Deutschland schon in der Kita und dann in der Grundschule die Erfahrung machen kann, dass Bücher etwas Tolles sein können. (Warum das so ist, muss ich hier ja nicht erklären!) Für viele könnte das Lesen einen ganz wichtigen Anstoß geben und manchmal vielleicht sogar wichtige Weichen fürs Leben stellen. Damit das gelingt, muss aber in den Schulen mehr dafür passieren – Freude am Lesen zu vermitteln darf nicht allein Aufgabe außerschulischer Instanzen sein, nur die Schule erreicht ja wirklich alle Kinder. Lehrpläne müssten Büchern einen deutlich größeren Raum einräumen, es darf nicht, wie jetzt häufig, so bleiben, dass Lehrer einfach wegen anderer Aufgaben keinen Raum haben, Kinder an Bücher heranzuführen. Und jede Schule müsste eine Schülerbücherei bekommen. Das wäre dann doch schon mal ein Anfang! Und, damit das klar ist: Das sind Forderungen an die Politik!

Konstanze von LESEWEIS®:

Liebe Kirsten Boie, herzlichen Dank für dieses hochinteressante Gespräch!