Als ich ein Flüchtling war. Oder: Geht der Flüchtling gar nicht mehr?

Grafik: Heiko Keller

Nein, ich war nie ein Flüchtling. Bislang jedenfalls nicht. Meine Eltern waren Flüchtlinge. Zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Situationen. Meine Großeltern waren Flüchtlinge. Und wenn sie heute darüber erzählen, erzählen sie dankbar und froh. Wurde durch die Flucht doch alles gut. Der Titel dieses Textes entspräche der Wahrheit, wenn ich ihn in Anführungszeichen gesetzt hätte. Denn er ist ein Zitat. Ein Zitat aus vorliegendem Text, einer Passage, die gerade jetzt, während ich schreibe, noch gar nicht existiert, auf die ich aber hinziele, weil ich eine Idee habe, einen Gedanken, eine Vorstellung. Eine Vorstellung von Wandel. Von Übergang. Von Zukunft. Ich werde sie also zitieren können.

Für den Augenblick halten wir fest, zu welchen Missverständnissen es kommen kann, wenn man die Satzzeichen weglässt. Ein banaler Zusatz kleiner Strichchen vorne und kleiner Strichchen hinten, und man hätte auf einen Blick verstanden, dass ich nicht von mir rede. Aufgepasst also im Umgang mit Sprache. Besonders bei heiklen Themen. 

Mit der zweiten Überschrift steht es kaum besser. Auch hier fehlen Gänsefüßchen, was eine gefährliche Ungeduld vermuten lässt, mit der ich auf politisches Handeln harre. Hätte ich das Wort „Flüchtling“ mit Anführungszeichen eingefasst, wäre klar gewesen, dass ich mitnichten von einer Person oder Gruppe spreche, die mich stört, sondern von dem Wort „Flüchtling“, das möglicherweise falsch ist. Einem Wort, das seit dem 17. Jahrhundert in unserer Sprache bezeugt ist. Und einen Menschen bezeichnet, der auf der Flucht ist. Ein Wort also, das Ungeheures ausdrückt und Hilfsbereitschaft weitet. Oder eben nicht? 

Achtung, sagte ich; Vorsicht im Umgang mit Sprache.

Sprache ist ein Werkzeug, ein Werkzeug, das zur Waffe werden kann. Ein Werkzeug, mit dem man Feines, aber auch Schlimmes produzieren kann. Fehlerhafter Umgang führt – im besten Fall – zu schlechten Produkten. Schaffen wollen wir mit ihr Verständnis, Zustimmung, Nachdenklichkeit, auch Unterhaltung und in jedem Fall Übermittlung korrekter Information. Der Finessen dabei sind viele. Bin ich eine gebürtige Deutsche oder ein geborene? Macht das einen Unterschied? Der Flüchtling jedenfalls ist kein gebürtiger Deutscher, vielleicht aber ein geborener. Das wird sich zeigen in Zukunft, wenn Wandel und Übergang möglich waren – und diese Chance wollen wir ihm lassen. Erreichen wir das nicht, wenn wir ihn „Flüchtling“ nennen?

Im Jahr 2015 wurde „Flüchtling“ von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gewählt. Als Ausdruck, der den öffentlichen Diskurs des Jahres bestimmt, das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben wesentlich geprägt habe. 2016 kamen die ersten (neuen) Flüchtlinge auch in meiner Heimatgemeinde an. Ich sollte einen Artikel über sie schreiben, das Wort „Flüchtling“ dabei allerdings vermeiden, es sei politisch nicht korrekt. Vorgeschlagen wurde mir unter anderem „Geflüchtete“. Tief durchatmen. Hingucken. Versuchen zu verstehen. Den Schauer ignorieren, der mir stets über den Rücken läuft, wenn mir jemand altbewährte, klare Ausdrücke verbieten will, weil sie urplötzlich in den Verdacht geraten sind, diskriminierend zu sein. Hier war er also, der nächste Versuch,  sprachliches Werken unnötig kompliziert zu machen. Ein Problem aus zweiter Hand. Wörter-Aktionismus statt Wohltat. Geschieht regelmäßig, wenn die Menschheit es nicht in den Griff bekommt, dass wieder diskriminiert wird. Plötzlich sind die Wörter schuld. Dabei sind es nicht Namen, die diskriminieren, sondern Haltungen, Hintergedanken, Verhalten und Taten.  

Ich guckte, lauschte und spürte genau hin. Aber das Wort „Flüchtling“, das mindestens 500 Jahre alt ist, kam mir völlig neutral vor. Ist es aber nicht.

Mit einer Gruppe interessierter Wörter-Menschen begann ich Nachforschungen anzustellen. Verwandte, vergleichbar gebaute Wörter zu sammeln. Eindrücke zu notieren. Wortwolken zu schaffen. Und Spannendes tat sich auf, so dass selbst die Kopfschüttler unter uns plötzlich gebannt inne hielten. Unser erster Verdacht, die Endsilbe -ling könne Dinge verkleinern und damit herunterspielen, bestätigte sich zunächst nicht. -ling erledigt wortwerktechnisch nichts weiter, als eine Person zu beschreiben, die durch ein besonderes Merkmal charakterisiert ist – in unserem Fall also dadurch, dass sie auf der Flucht ist. Will man etwas Übles in ein so gebautes Wort packen, muss es vor das -ling. Interessanterweise macht -ling keinen Unterschied zwischen männlich und weiblich. Es gibt (zumindest schon sehr lange) keine weibliche -ling-Form (mehr). -linge sind immer alle zusammen, sogesehen sind -ling-Wörter prädestiniert für korrektes Gender-Talking und könnten uns vor manch anderem sprachlichen Unsinn bewahren. Noch hat mich niemand gebeten, von Flüchtlingen und Flüchtlinginnen oder gar FlüchtlingInnen zu sprechen. Da hätte ich jetzt eine schöne Antwort.

Alles wäre also gut mit unserem „Flüchtling“, würden da nicht Wortkollegen und Vorgefühle und Begleitgeschichten mitschwingen. Und zwar eine ganze Menge. Ein richtig alter, lang gegorener Klumpatsch. Wie immer. Und daran hatte ich tatsächlich zuvor nicht gedacht.

Im Mittelalter hat das Suffix -ling Personen durchaus kleingeredet, so wie -lîn und das später daraus entwickelte -lein. Dies galt jedoch nicht als Abwertung. Ein Säugling, ein Täufling, ein Schützling sind klein und hilflos, so dass sie unsere Zuwendung brauchen. Ein Lehrling ist erst im Werden und kann vieles noch nicht selbstständig. Der Zögling muss noch erzogen, der Prüfling noch geprüft werden. Allen gemein ist, dass sie irgendwie noch nicht fertig sind. Dass sich noch zeigen muss, was aus ihnen wird. Und dass andere ihnen dabei offenkundig helfen müssen. -linge sind nicht selbst aktiv. Sie werden gesäugt, erzogen, ausgebildet. Ein Großteil der -ling-Wörter, die wir mit wahrer Sammelleidenschaft zusammengestellt haben, kommen aus dem Bereich der Landwirtschaft und des Gartenbaus und bezeichnen Pflanzen im jüngsten Status. Der Sämling, der Keimling, der Sprössling, der Setzling dürften hier die prominentesten Beispiele sein. Noch nicht fertig… Noch vage und zaghaft… Wir kümmern uns drum… 

Heißt das automatisch, dass man den -lingen eigenes Handeln abspenstisch redet, dass man lieber für sie aktiv wird, ihnen in logischer Konsequenz so, wie sie jetzt sind, nicht recht über den Weg traut? Bringen wir mit dem -ling zum Ausdruck, dass es hier jemand ohne uns niemals schafft? Noch nicht zumindest?

Auch der Neuankömmling genießt vorsichtshalber nicht unser ganzes Vertrauen. Erst muss er sich bewähren, wird unter die Lupe genommen, was ja schon zeigt, dass wir es mit einem Winzling zu tun haben. Fremdlinge, Sonderlinge, Feiglinge … in diesen weiteren Begriffen wird aus dem Abwarten schon deutlich ein Abwerten. Ganz zu schweigen vom Eindringling. Und beim Wüstling, beim Sträfling und beim Häftling sind Hopfen und Malz schon gänzlich verloren. 

Verblüfft bis entsetzt starre ich auf unsere recht überschaubare Liste deutscher -ling-Wörter. Kaum ein positiv besetztes. Von Neutralität keine Spur. Wörter, die die Achtung des Sprechers vor dem Genannten ausdrücken – in dieser Gruppe Fehlanzeige. Oder sind wir auf zu einseitigen Pfaden unterwegs? 

Wir beenden das Sammeln, drehen den Spieß um und werden aktiv:

Was, fragten wir uns, will man sprachlich erreichen, wenn man ein -ling anhängt? Ein nicht unübliches Vorgehen: Laut Duden ist die Wortschöpfung gerade mit dem ableitenden Suffix -ling gegenwärtig äußerst lebendig. Der Fiesling oder der Naivling sind beispielsweise noch neu auf dem Wörtermarkt. Wobei da ja schon das abzuleitenden Adjektiv negativ konnotiert ist. Was das -ling alleine anrichtet, findet man heraus, wenn man es probehalber mit neutralen oder positiven Begriffen kombiniert. Was geschieht mit einem Geiger wenn er zum Geigerling wird? Einem modebewussten Menschen, wenn er ein Modeling wird? Einem Reporter, wenn wir ihn Reporterling nennen? Aus dem hübschen Menschen, wenn er zum Hübschling wird? Wie stehen wir zu einem Reichling? Einem Redeling? Einem Sauberling?

Man spürt es, wenn man hinhört. 

Dem Schönling, dem Schreiberling, dem Frömmling ist es passiert: sie sind zur lächerlichen Figur geworden. Vom Höfling ganz zu schweigen. Vom Abkömmling oder gar vom Emporkömmling. Ungeliebt. Verpönt. Wir schauen auf diese -linge hinab, weil sie sich in unseren Augen falsch benehmen oder aber sich am falschen Platz befinden.Wir bauen mit dieser Wortkonstruktion eine Distanz zwischen uns und der bezeichneten Person auf, durch die wir ausdrücken, dass wir sie als suspekt, im schlimmsten Fall sogar als beängstigend empfinden. Alles keine guten Voraussetzungen für das Wort „Flüchtling“. 

Wir können uns nicht dagegen wehren, in unsere Sprache verstrickt zu sein. Instinktiv verstehen und nutzen wir den ganzen Klumpatsch. Durchaus ohne es zu beabsichtigen. Gut möglich, dass unsere Haltung dadurch beeinflusst wird. Und dann wäre die Nutzung des Wortes „Flüchtling“ fatal.

Schwächling, Dümmling, Finsterling…, die Reihe ist lang. Aber der Häuptling! Der Frühling! Der Schmetterling! Nein, auch die helfen dem „Flüchtling“ nicht weiter. Wer hat das Wort „Häuptling“ geprägt? Nicht die Angehörigen eines Volksstamms, sei er indianischer, afrikanischer oder altgermanischer Natur. Sie hatten andere Bezeichnungen für den Mann, zu dem sie aufblickten, dem sie ihr Wohl anvertrauten und ihre Treue schenkten. Die „zivilisierten“ Herren Eroberer, Missionierer und Unterwerfer waren es, die nicht vom Haupt eines Stammes sprachen, sondern – lieblich abschätzend – vom Häupt-ling. Diesem Möchtegern-Haupt. Der Frühling, so süßlich er auch besungen wird, er ist der unfertige Sommer. Der Schmetterling? Trotz heftig schönen Flügelschlags nur ein Insekt. 

Wie steht es mit den vielen Pilzarten, die auf -ling enden? Sie machen immerhin fast die Hälfte sämtlicher -ling-Wörter im Deutschen aus. All die Röhrlinge und Lacklinge, die Seitlinge und Pfifferlinge, die Täublinge und Schwindlinge. Mein Vater ist passionierter Pilzexperte, was mich seit frühster Kindheit Pilze mit lebendigen Freudenfunken assoziieren lässt. Er sammelt Pilze, isst sie, hält Vorträge über sie, gibt Schulungen und Interviews und liest natürlich auch regelmäßig den „Tintling“ – Deutschlands Fachjournal für Pilzkunde. Ich befrage ihn zu unserem -ling-Thema. In Pilzen sehe ich die verbleibenden positiv besetzten -linge. Ich liege daneben…

Pilze galten schon immer als seltsame, unbehagliche Wesen, die die Menschen einerseits bestaunten, andererseits als unheimlich empfanden. Weder Tier noch Pflanze, konnte man sie nie wirklich zuordnen. Keiner hat sie gesetzt oder gepflanzt – doch plötzlich sind sie da. An einem Ort, an dem gestern noch nichts von ihnen zu sehen war. Markant und mit auffälligem Aussehen, die einen gefährlich, die anderen nicht. Pilze, sagt mein Vater, der Experte, waren den Menschen suspekt, bei aller Affinität zu den kleinen Geschöpfen, blieben sie vielen fremd und furchteinflößend. 

Es ist traurig zu sehen, wie sehr schon eine kurze Silbe misstrauisches Unbehagen zum Ausdruck bringen kann. Und wie leichtfertig wir mit arrogantem Kleinreden bei der Hand sind. „Flüchtling“ – ein übles Wort? Die Konnotationen sind mies, im Unterbewusstsein jedoch fest verankert. Einen Flücht-ling nimmt sprachlich keiner ernst, könnte man folgern. Doch was muss ein denkender Mensch ernster nehmen als einen Menschen auf der Flucht?

„Als ich ein Flüchtling war“, sagt mein Vater, der in den 60er Jahren über die deutsch-deutsche Grenze in den Westen flüchtete, „war das Wort für mich nun wirklich nicht das Problem.“ Dann wird er nachdenklich, erinnert sich. „Kaum war ich im Westen, in Kaiserslautern, angekommen, bekam ich einen Anruf von der Stadt. Ich sollte schriftlich erklären, ob ich ein Flüchtling sei oder nicht. Ich beeilte mich zu sagen, dass ich keiner war!“

Warum?

Flüchtling zu sein bedeutete jemand zu sein, der auf die Hilfe des Staates angewiesen war und diese auch in Anspruch nehmen wollte. Noch klein… noch schutzbedürftig… noch hilfesuchend… noch kritisch beäugt… Mein Vater wohnte bei seinem Onkel in Kaiserslautern, der ihn auch als Lehrling (was man damals noch sagen durfte – heute heißt das Auszubildender…) in seinen Glas- und Porzellanladen aufgenommen hatte. Obwohl er also aus einem politischen System geflohen war, das ihm ein Studium und ein freies Leben verweigert hatte aus Gründen, die nicht bei ihm lagen, wollte er nicht als „Flüchtling“ bezeichnet werden, weil er vom ersten Augenblick an seine Chance sah, auf eigenen Füßen zu stehen. 

Macht das nicht nachdenklich?

Zur Zeit scheint die Sorge um das Wort „Flüchtling“ wieder abgeflaut. Ich habe gelesen, dass sie in Wellen immer wieder auftaucht. Offenbar mit jedem größeren Flüchtlingsstrom wieder. Erst kommen Flüchtlinge, dann das Wort in alle Munde, dann die Panik, man könnte mit dem Wort etwas falsch machen. 

Tatsächlich ist das Wort aus seinem alten Bildungskontext heraus schlecht gewählt. Aber es existiert schon so lange, dass es meiner Meinung nach das Recht haben müsste, unangekreidet verwendet zu werden. Vernünftige Menschen verwenden es ohne abwertende Hintergedanken und auch ohne sich in übertriebene Hilfsaktionen zu stürzen. Wenn ich den alten Kontext positiv mit einschließen möchte, dann jenen Aspekt, dass „Flüchtlingsein“ ein vorübergehender Status ist, ein zu wandelnder Status, und diese Wandlung auch unbedingt erfolgen sollte. „Ich war ein Flüchtling“, sagt mein Vater. Doch er hat die Chance bekommen, ein neues selbständiges Leben anzufangen. Bei ihm ging sehr schnell, was für alle Menschen, die flüchten müssen, eine echte Möglichkeit sein sollte. Als Flüchtling empfangen werden. Als neuer Mensch entlassen werden. Aus einem Flüchtling wurde ein Ankömmling, aus diesem ein Neuling und ein Lehrling, schließlich ein anerkannter und allseits geschätzter Mann, Freund, Familienvater… Das Leben geht weiter. Den -ling lässt man hinter sich. 

Es ist gut, wenn wir achtsam sind, welche Worte wir benutzen. Eingedenk dessen, wie wichtig es schon sein kann, die Anführungszeichen an die richtige Stelle zu setzen. Bei aller Sprachvorsicht bleiben jedoch Haltung und Hintergedanken, Verhalten und Taten entscheidend. Wenn wir dazu beitragen, dass kein Flüchtling Flüchtling bleiben muss, verliert das aufgeladene Wort sein schweres Gewicht. Und gewinnt sogar an Achtung und Fürsorge. Wenn die Menschen, die in Not zu uns kommen, wieder nach Hause zurück kehren dürfen, sobald dort alles wieder gut ist. Wenn sie hierbleiben, sich hier ein neues Leben aufbauen und sich wieder als ganze Menschen fühlen dürfen, allseits geschätzt und anerkannt, nicht auf Hilfe angewiesen, sondern selbst dabei, ihren Mitmenschen beizustehen. Wenn der schwere Status überwunden ist. Dann ist alles gut. Dann hat sich die Wandlung vollzogen. Flüchtling zu sein war dann ein Übergang. Und ich denke, so ist das ling-Wort auch gemeint. So hat es eine berechtigte Gegenwart – und vor allem hat jeder Flüchtling so eine ling-freieZukunft. 

©Konstanze Keller