Klasse Lektüre für Jungs. Und nicht nur für Jungs. Und nicht nur für Kinder. Hier hab ich ein Stückchen echte Literatur entdeckt, das alten wie jungen Lesern wahre Lesefreude schenken kann. Wäre ich Regisseurin, aus dieser bewegenden, lustigen wie schmerzvollen, ganz besonders schönen, seele-befreienden Erzählung um zwei außergewöhnliche Figuren würde ich einen Film machen. Ab 10 Jahren.
Kirsten Reinhardt: DER KAUGUMMIGRAF. Carlsen, 2017. #_ISBN_978_3_551_55654_7. 222 Seiten. LW_Ab_10_Jahren. 12,99€
Ich gratuliere Kerstin Reinhard zu ihrem Mut, einen alten Mann ins Zentrum eines Kinderbuchs zu stellen. Vermeintliche Experten sagen ja, das funktioniere nicht. Kinder interessierten sich nur für Kinderhelden. Mitnichten! Meine Testleser und ich sind da völlig anderer Meinung. Es kommt immer nur darauf an, dass eine gute Geschichte einfühlsam erzählt wird und wir uns so, ob alt oder jung, mit dem Helden identifizieren können.
Hier stoßen wir auf einen skurrilen Ich-Erzähler, der allein in einem stillgelegten Bahnhof lebt und da einem strikten täglichen Zeitplan nachgeht. Seit über 40 Jahren. Die Geschichte beginnt an dem Tag, an dem dieser Zeitplan massiv gestört wird, der Alte dazu gebracht wird, das Leben wieder anzufangen – und das ist nur der Anfang eines äußerst heilsamen Aus-den-Fugen-Geraten.
Ein Kind. Ein Mädchen taucht im Bahnhof auf. Eine kleine Herumtreiberin, wie es scheint, mit recht schlechten Manieren. Sie platzt in das scheinbar so gut eingerichtete Leben des alten Mannes, der sich als ehemaliger Sprössling einer Adelsfamilie entpuppt. Nach und nach wird dem Grafen im Angesicht des frischen, in sein Haus gestolperten Lebens klar, dass er mitnichten sicher für das Ende seiner Tage etabliert ist. In Wirklichkeit ist er selbst und alles um ihn herum doch sehr heruntergekommen und fragil. Er ist einsam. Und die Eingefahrenheit hat ihn so manches aus seiner Kindheit vergessen lassen, was trotz seines hohen Alters noch nicht abgeschlossen ist. Die kleine Eli öffnet dem Grafen die Augen. Und veranlasst ihn, in seine Kindheit zurückzublicken, die in beinahe Dickens’schen Passagen erzählt wird. Eine heftige und abenteuerliche Kindheit, die mit einem seltsamen Hobby ausgeglichen wurde: dem Sammeln von Kaugummis. Gebrauchten Kaugummis. Das fasziniert nicht nur Eli. Der Graf holt seine Sammlung hervor, und zu jedem Kaugummi hat er eine Geschichte zu erzählen. Aus den Exponaten setzt sich eine rührende, oft auch komische Geschichte zusammen. Der Alte und die Junge beginnen mit Hilfe dieser Geschichten ein köstlich freches Leben im alten Bahnhof, bis die Schatten der Vergangenheit sie auch hier einzuholen scheinen. Denn Geschichten gehen weiter, auch wenn man sich 40 Jahre lang tot stellt oder wegläuft. Begegnet man ihnen dann aber, wird es spannend und abenteuerlich.
Eine Geschichte, die alles bietet. Vom Rätselhaften, Seltsamen, Unheimlichen über das Todtraurige bis hin zum Todlachen. Und natürlich ein ganz wunderbares Ende. Großes Kino! Sprachlich und literarisch hochwertig.
Außerdem wünschte ich, dass echte Konditoren und Süßwarenhersteller ein bisschen was von solchen Schriftstellerinnen in sich hätten – und derartige Köstlichkeiten erfinden könnten wie sie. Sie zerfließen einen beim Lesen auf der Zunge.
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