Alice im Wunderland

„Und zuletzt malte sie sich aus, wie dieselbe kleine Schwester, die eben davongelaufen war, eines Tages auch erwachsen wäre und sich wohl auch in reiferen Jahren das einfältige liebevolle Herz ihrer Kindheit bewahrt hätte, und sah vor sich, wie sich andere kleine Kinder um sie scharten und wie auch deren Augen aufleuchteten bei manch einer seltsamen Geschichte des Traumes vom Wunderland aus alter Zeit.“ (Lewis Carroll in Alice im Wunderland)
Zu den schönen Ausgaben unserer Kinderbuchverlage: Coppenrath, Gerstenberg, Bohem
In aller Munde

Alice im Wunderland ist wohl die bekannteste Kinderbuchheldin der Welt. Nenne ohne weiter nachzudenken ein Werkzeug, und du sagst Hammer. Nenne ohne weiter nachzudenken eine Farbe, und du sagst rot. Nenne ohne weiter nachzudenken eine Kinderbuchfigur, und du sagst Alice im Wunderland. Und das, obwohl du den Klassiker von Lewis Carroll vielleicht gar nie gelesen hast. Eine Menge verrückter Adaptionen kennst du sicher; oder einzelne Szenen, die gar nicht zusammen zu gehören scheinen; vielleicht das ein oder andere absurde Gedicht oder eine seltsame Figur — das weiße Kaninchen, den verrückten Hutmacher, die Grinsekatze oder Humpty Dumpty. 

Manch einer neigt dazu, hinter vorgehaltener Hand (Klassiker beschmutzt man schließlich nicht gefahrlos) zu sagen, dass er mit der Geschichte von Alice im Wunderland so überhaupt gar nichts anfangen kann (das höre ich vor allem von jungen Eltern und Kindergärtner:innen, also denjenigen, die jetzt als Erwachsene das Buch wieder in die Hand nehmen und sich fragen, ob sie es Kindern vorlesen sollen). Sie sagen, dass sie das Buch schon als Kind nicht mochten. Das sei akzeptiert. Doch wie ein Bumerang taucht Alice immer wieder auf. Wird zitiert, wird geliebt, wird gelistet, ziert Titelbilder von Kinderbuch-Büchern. Sie gehört zum Kanon. Sie ist praktisch der Kanon. Wer gebildet ist, schätzt Alice und hat wenigstens eine Ausgabe zuhause. Wer hingegen klein ist und unvoreingenommen und sich einfach mitnehmen lässt, der liebt Alice. 

LESEWEIS® empfiehlt: Ja! Vorlesen! Keine Kindheit bitteschön ohne Alice im Wunderland!
Seltsame Traumreise

Hand auf auf’s Herz der Herzdame: Ich gehörte zu denen, die Alice im Wunderland stets irgendwie seltsam fanden und mit den episodenhaften Geschichten dieser seltsamen Traumreise lange Zeit nichts anfangen konnten. Als Kind hatte ich Angst vor der Herzkönigin, die allen den Kopf abschlagen lässt. Was „begnadigen“ bedeutet, wusste ich leider noch nicht und bekam deshalb auf meiner Schallplatten-Version nicht mit, dass am Ende niemand seinen Kopf verliert. 

Frau Leseweis hinter den Spiegeln
Noch heute befremdet mich die Geschichte dahingehend, dass Alice in der gesamten Geschichte (also auch dem einen Folgeband, Alice hinter den Spiegeln), so allein bleibt. Zu keiner der vielen Figuren, denen sie begegnet und die mit ihr sprechen, baut sie eine wirkliche Beziehung auf. Keine kommt ihr näher. Selbst diejenigen, die sie beraten (wie die Raupe, die ihr sagt, wie sie ihre normale Größe wieder erlangen kann), stehen für sich, bleiben für sich, werden weder Retter, noch Freund, noch Feind. Es ist nicht klar, wer hier gut, wer böse ist. Nicht einmal, was gut oder böse ist. Worauf läuft alles hinaus? Was ist der Sinn? — Ein verwirrender, unklarer Traum kann kaum weniger verstörend sein… 
Alles im Fluss

Heute weiß ich, dass das Werk eines der feinsten der Nonsense-Literatur ist. Was ja nichts anderes heißt, als „großartige, frei fließende Geschichte, ganz ohne Sinn“. Sie ist eine Geschichte, wie Kinder sie erzählen würden. Wie sie sie aufschreiben würden, wenn sie schon schreiben könnten. Ohne Vorbehalte. Voller starker Bilder und Szenen. Und ich sehe bei Kindern die leuchtenden Augen und höre ihr Giggeln, wenn sie in diesen Text tauchen. In dem alles möglich ist. Wo Inhalt und Sprache den Bauch kitzeln. Eine grenzenlose Steigerung der Fantasie, wie sonst nur Träume es leisten. Weshalb Alice im Wunderland bis heute kleine Kinder, Spielertypen, Künstler (und Mathematiker! — gleich mehr dazu) begeistert. Carroll selbst war sich offenbar nicht sicher, ob er die Geschichte, die er den Töchtern von Rektor Liddell vom Christ Church College in Oxford bei einer Themse-Bootsfahrt spontan erzählte und dann aufschrieb, wirklich publizieren sollte. Erst als er den kleinen Sohn eines Freundes die Geschichte lesen ließ, und der sich in heller Begeisterung etwa sechzigtausend weitere Alice-Bände wünschte, ließ Carroll drucken. Die Erfolgsgeschichte ist Geschichte. 

Einen Traum träumen. Sich im Spiel verlieren. Wir empfehlen Alice für…

Alice im Wunderland ist ein glorreiches Buch für kleine Kinder. Vierjährige? Fünfjährige? Ich mache keine Altersangabe. Nichts für Sinnsucher. Doch sicher: Was für Unsinnsucher! Für kleine Geschöpfe, die schiere Freude an dem „und-dann-und-dann-und-dann“-Stil haben, der von verdrehter Szene zu verdrehter Szene führt. Alice im Wunderland ist eigentlich ein großes Spiel. Ein phänomenales, selbstvergessenes Spiel, das nicht dazu da ist verstanden zu werden, sondern mitgespielt. Und weitergeträumt. Neben kleinen Kindern sind es ausgerechnet Mathematiker, die insbesondere für dieses Kinderbuch schwärmen. Lewis Carroll ist ja auch das Pseudonym des Mathematik-Professors Charles Lutwidge Dodgson, der in seinem Werk bewusst mit Regeln der Logik spielt, des Unendlichkeitsdenkens, des Karten- oder Schachspiels. Die Art von Mathematiker eben, die sich gern in verwirrende, spiegelnde Szenarien der Un-Möglichkeit hineindenken, Relationen aufheben, vergleichen. Da kommen neben ihresgleichen schlicht nur kleine Kinder mit, die keine Vorbehalte gegen Gedankenspiele haben. Die sich schwerelos aller Logik entheben können. Die in Fantasie panschen wie in köstlichem Matsch. Verstörte Sinnsucher runzeln da eben die Stirn, das ist ganz normal. (Solange, bis sie den Rucksack ablegen, die Hände vor der Brust falten und — just for fun — ebenfalls mal grade in den Schlamm köpfen.) Wer als großer Mensch Alice im Wunderland genießen möchte, sollte von der Art Erwachsener sein, die sich „auch in reiferen Jahren das einfältige liebevolle Herz ihrer Kindheit bewahrt“ haben und sich mit „leuchtenden Augen“ auch mal dem unsinnigen, nonsense-Spiel hingeben. Lewis Carroll sagt es uns am Ende von Alice im Wunderland selbst (Zitat oben).

Alice gesehen vom Künstler:
Jan von Holleben, Künstler-Fotograf und einer unserer großen zeitgenössischen Lieblings-Kinderbuchmacher, den ich um seine Einschätzung von Alice im Wunderland gebeten habe, schwärmt von der Grenzenlosigkeit der Kreativität in diesem Kinderbuch. 

Die Lektüre sei: „Ein großer Trip durch die fantastischen Welten des Schriftstellers, der seine Geschichte immer wieder überraschend dreht und wendet. Als ob sie im Moment immer wieder neu erfunden wird. Ein absolut freies Werk, in dem alles passiert — nur nicht so, wie man es erwartet. Jede Situation löst sich so kreativ, so unmöglich, so fantastisch auf…“ Jan von Holleben, Schöpfer des Buches Alles immer, der seine Motive mit spielerischer Schwerelosigkeit durch ein ganz eigenes Wunderland fliegen lässt, sagt von Alice: „Man wird immer wieder überrascht von der Improvisation der Situation.“

Sprachspaß pur. Welche Ausgabe für Kinder und Künstler von heute?

Carroll spielt in Alice im Wunderland famos mit Sprache. Was eine Übersetzung aus dem Englischen extrem schwierig macht. Tatsächlich lautet mein Tipp zum Vollgenuss, den Text im englischen Original zu lesen. Bei den deutschen Kinderbuchausgaben auf jeden Fall keine verkürzende, den Inhalt zusammenfassende Adaption wählen, sondern das ursprüngliche Buch. Das Unzensierte, das Holprige, der Sprach-Quatsch des Originals sind das, was das Buch so wertvoll macht. Die meisten aktuellen deutschen Kinderbuchausgaben mit dem ungekürzten Text folgen der Übersetzung Christian Enzensbergers, die viele Wort- und Lautspiele bewundernswert ins Deutsche überträgt. Denkt einfach nur dran, sie euren Kindern früh genug vorzulesen, auch wenn ihr nicht alles versteht. Denn dann fordert auch ihr bald etwa 60.000 weitere Bände. 

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Alice aller (Bücher-)Orten:

DIE GESCHICHTE DES KINDERBUCHES IN 100 BÜCHERN (Gerstenberg-Verlag) hat eine zauberhafte Alice-Illustration auf ihrem Cover. Was sonst? Das großartige Werk über die Entwicklung des Kinderbuchs widmet sich natürlich auch in einem eigenen Kapitel Lewis Carrolls Meisterwerk, das mit dem Satz aufbricht: „Als Alice im Jahr 1865 einem weißen Kaninchen folgte, veränderte sich die Welt der Kinderlitaratur völlig.“ Wir erfahren zudem viel über die Arbeit der Übersetzer, über die Ausgabe für jüngere Kinder, die Lewis Carroll selbst adaptierte, und darüber, welche wunderbaren Künstler sich nach dem Original-Illustrator John Tenniel daran gemacht haben, den Klassiker zu illustrieren. Darunter Tove Jansson. Doch auch Max Ernst, Oskar Kokoschka, Peter Blake, René Magritte und Salvador Dalí ließen sich von Alices Traumwelt zu Kunstwerken inspirieren.  

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Der ATLAS LITERARISCHER ORTE (Knesebeck-Verlag) hat natürlich das Wunderland im Untertitel (Von Wunderland bis Mittelerde). Auch dies ein unentbehrliches Buch für Kinderbuch-Freaks. Wie in einem Reiseführer erfahren wir Fantastisches und Wissenswertes über die Orte, an denen unsere Lieblingsgeschichten spielen. Alices Wunderland wird hier lokalisiert als irgendwo „unterhalb von Großbritannien“ — Alice fällt ja sehr langsam durch einen Schacht in die Tiefe — und dies, aufgrund seiner Entstehung, vermutlich irgendwo unter dem Christ Church College in Oxford. Wo — und das gehört zu den spannenden Verbindungen, den dieser Atlas herstellt — nicht nur Carroll die Geschichte spontan erfand und den Liddell-Töchtern erzählte, sondern wo viel später dann Szenen sowohl zu den Harry-Potter-Filmen als auch zu Der Goldene Kompass gedreht wurden. 

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DAS MAGISCHE BUCHREGAL (Verlag minedition) Klar, dass in Zwerg Tallys Buchregal, in dem sich nicht Bücher, sondern eine „Ansammlung bunter Figuren“ findet, die aus Märchenbüchern gekommen sind, auch Alice im Wunderland auftaucht. Tally erinnert hier gleich an mehrere Szenen aus den beiden Alice-Büchern. Und so ist natürlich auch das weiße Kaninchen da und Humpty Dumpty und Die weiße Königin, Tweedeldum und Tweedledee und mehr. Es ist ja schon eine Leistung, wenn eine Buchfigur außerhalb ihres Buches weiterlebt. Bei Alice steht das außer Frage. Doch haben es aus Carrolls Meisterwerk gleich ein ganzer Haufen von Figuren zu selbstständiger Popularität geschafft. Welch fantastische Gestalten noch im magischen Buchregal des begnadeten Künstlers Robert Ingpen unterwegs sind, seht ihr hier. Auch dieses Bilderbuch ein Must-have für Kinderbuch-Narren jeden Alters.