Text: Konstanze Keller
Durch einen Artikel in einem Buch stoße ich auf den Begriff „Kniereiter“. Von dem ich lange Zeit nicht wusste, dass er diese halbgesungenen, halb rhythmisch gesprochenen Reime meint, die Menschen ihren kleinen Kindern vortragen, während sie sie auf ihren Knien wippen. Und das meist recht wild und heftig zum großen Gejauchze der Kleinen, mit einer dramatischen Steigerung, die in lautem Geschrei, giggelnden Lachkrämpfen und wohligem Seufzen endet. Von Seiten des Erwachsenen meist noch gefolgt von einer innigen Umarmung des kleinen Kniereiters. Denn streng genommen müsste man das Kind als den Reiter bezeichnen und nicht die dazu beschworenen Worte.
In dem Artikel geht es um frühe Kinderliteratur, und einen Moment lang will ich schon schmunzeln, so ein großväterliches Spiel als Literatur zu bezeichnen. Da steht mir mit einem Mal eine längst verlorene Erinnerung wieder vor Augen. Mit allumfassendem Gefühl. Meine Großmutter hält meine kleinen Hände in ihren großen. Unter mir wackelt die Welt. Seltsame Worte umfließen mich in ihrer geliebten Stimme. Mir ist warm, ich fühle mich sicher und köstlich unsicher zugleich. Die Worte verstehe ich nur zum Teil und weiß nicht wirklich, was sie meinen. Doch. Ich weiß, dass sie bedeuten, dass ich gleich durchgeschüttelt werde, dass ich die Kontrolle verlieren, stürzen und fallen werde. Und dass ich im rechten Moment aufgefangen werde. Ich galoppiere auf den Knien meiner Großmutter in unserer hell erleuchteten Küche einem Happy End entgegen. Und rüste mich gerade mit einem unvergleichlich lustvollen Kribbeln im Bauch für die Katastrophen, die ich zuvor noch werde durchstehen müssen. Geborgenheit, volle Aufmerksamkeit, Staunen – sie gehören in diesem Moment ganz mir. Ich kenne diese unverständlichen Worttöne, sie sind mir wohl vertraut, und ein bisschen verstehe ich auch ihre Bedeutung. So reiten die Damen, so reiten die Damen. So reiten die Herren, so reiten die Herren… Die Spannung steigt. Bald wird es turbulent, bald kommt der Absturz, die Worte kündigen es an. Meine Vorfreude überschlägt sich schier. Panik steigt in mir auf. Göttliche Panik. Denn das Vertrauen ist absolut. Hochspannung, Aufregung, Angst gepaart mit unbändigem Vergnügen. Völlig unnötig das alles, wenn man von der diebischen Freude absieht, die es mir bereitet. Ich werde durchgeschüttelt von Worten und Beinen, innerhalb von Sekunden erlebe ich Weltgeschichte… So reiten die Ritter, so reiten die Räuber, so reiten die Bauern! Ich durchleide wohlig das persönliches Drama eines anderen. Ohne je von der wohltuenden Wirkung der Katharsis gehört zu haben, fühle ich mich jetzt schon prächtig. Denn nun ist es so weit. Ich kann mich nicht mehr halten, ich stürze, die Küchenwelt saust an mir vorbei, doch ich schlage nicht auf. Noch im Tumult höchster Gefühle holt man mich zurück in die Höhe, in die Wärme des gemeinsamen Lachens, in die normale, still stehende Welt. Fliegende Haare, rote Wangen, Großmutters leuchtende Augen. Uns geht es beiden jetzt unfassbar gut. Nur der Bauer liegt im Graben. Oder die Raben. Oder der geplumpste Reiter. Das alles, ich kann mir nicht helfen, es nun anders zu denken, ist die Wirkung von Literatur. Was wäre mir entgangen, wenn meine Großmutter und außerdem auch mein Vater nicht so unermüdlich diese Geschichte mit mir durchlebt hätten. So reiten die Damen! Keine Ahnung, wo das herkommt. Aber es ist Literatur.