Kinderherzen

von Jochen Kathöfer

Wie hatte er sich darauf gefreut. Fast dreißig Jahre war er nicht mehr hier gewesen, und nun war er endlich wieder hier. Auf der langen Fahrt in seine Heimatstadt kamen die Bilder seiner Kindheit zurück: Das große, bunte Kinderkarussell im Schatten der großen, imposanten Kirche. Die mächtigen Zinnen am Eingang des Weihnachtsmarkts, der hier Christkindlmarkt hieß. Die vielen Holzbuden, zwischen denen man sich auch mal verirren konnte. Der Glühweinstand, an dem die Erwachsenen stundenlang standen und hinterher stanken. Ja, auch die Gerüche stiegen ihm wieder in die Nase: gebrannte Mandeln, natürlich; dazu die süßliche Note des Glühweins und, auch das kam ihm wieder ins Bewusstsein, der leckere Backgeruch, der von den Baguettes mit Schinken und Käse ausging. Jedes Jahr hatte er sich ein bisschen von seinem Taschengeld zurückgelegt, um sich ein solches Baguette zu leisten, auch wenn er jedes Jahr feststellte, dass es besser roch als schmeckte. Später war der Weihnachtsmarkt auch der abendliche Treffpunkt mit den Schulfreunden. Ab und zu endeten sie dann auch am Glühweinstand und stanken hinterher wie die Erwachsenen. Aber das war nur eine ganz vage Erinnerung.

„Papa, wohin gehen wir jetzt?“, holte ihn die Stimme seiner Tochter aus seinen Gedanken. Er schaute sich um. Alles wirkte so viel kleiner als früher. Die mächtigen Zinnen aus Pappe, der Marktplatz, alles war so überschaubar. Ganz nett, aber wirklich nicht beeindruckend. Der Weihnachtsmarkt in der großen Stadt, in deren Umland er jetzt wohnte, ja, der war wirklich groß. Die Heiliggeistkirche viel imposanter, viel mehr Stände und der Blick aufs Schloss unbezahlbar. Und doch war es dort nicht so schön wie damals in seiner Kindheit. Was war nur mit dem Weihnachtsmarkt hier, in seiner Heimat, geschehen? 

„Papa, guck mal, die große Kirche da drüben, wie schön die angestrahlt ist.“ Er schaute seine Tochter an und blickte in glänzende Kinderaugen. „Es ist so schön hier, all die Lichter und die Musik“. Verzückt lief sie in Richtung der Bühne vor dem alten Fachwerkgebäude. Eigentlich war der Platz proppenvoll, aber sie navigierte zielsicher zwischen den Beinen der Erwachsenen durch, bis sie direkt vor der Bühne stand. Auf der Bühne stand ein Männerchor, der gerade „O du fröhliche“ sang. Ein wenig schief klang es an einigen Stellen, doch seine Tochter hörte ergriffen zu. Er hatte sie inzwischen erreicht und schaute sich um. Eigentlich hatte er erwartet, vertraute Gesichter zu sehen, aber es schien ihm, als kannte er niemanden hier. „Natürlich“, dachte er sich, „du bist ja nicht der einzige, der hier weggezogen ist“. Zum letzten Klassentreffen waren die meisten von weiter weg angereist. Die würden jetzt sicher nicht gerade an diesem Abend auch auf dem Weihnachtsmarkt stehen. Und die jungen Leute mit Kindern waren zum großen Teil noch gar nicht geboren, als er weggezogen war. Er kam sich mit einem Mal ganz fremd vor und fragte sich, was er eigentlich hier wollte. Seine Kindheit zurückholen? Lächerlich.

„Papa, ich habe Hunger“, unterbrach ihn seine Tochter unvermittelt. „Was möchtest du denn gerne?“, fragte er sie, worauf sie nur mit den Schultern zuckte: „Keine Ahnung, was gibt es denn hier?“ Er musste gar nicht groß umherschauen, denn ihm stiegen auf einmal die verschiedenen Gerüche in die Nase. Ohne hinzusehen wusste er, was hier angeboten wurde: in Bierteig frittierte Champignons, Blumenkohl, Pommes, Currywurst und Schnitzel. Ehrlich gesagt roch er nicht so sehr die einzelnen Speisen, sondern das ranzige Fett, in dem die meisten Speisen zubereitet wurden. Komisch, an diesen Geruch konnte er sich gar nicht erinnern, zumindest nicht von früher auf dem Weihnachtsmarkt. Es überraschte ihn nicht, dass all diese Speisen bei seiner Tochter keinen Anklang fanden. Da fiel ihm der Bäckereistand von früher wieder ein. „Ich habe noch eine Idee“, sagte er nur kurz und nahm seine Tochter bei der Hand. Mit festem Schritt führte er sie dorthin, wo dieser Stand früher immer war. Er rechnete kaum damit, ihn dort zu finden, und war deshalb ein wenig überrascht, als es immer deutlicher nach frisch gebackenem Teig und Käse roch, je näher sie der Stelle kamen.

Als sie am Stand angekommen waren, mussten sie warten, denn viele Leute standen dort an. Seine Tochter studierte derweil die Tafel, auf der die verschiedenen Baguettes angeschrieben waren. Seine Wahl stand schon fest, doch sie war sich noch unschlüssig. Schließlich entschied sie sich für das Baguette mit Schmand und Zimt. Sie war halt eine Süße. Mit großem Appetit bissen sie in ihre Baguettes und verspeisten sie mit großem Genuss. „Und jetzt möchte ich Karussell fahren“, befahl sie ihrem Vater. „Gibt es hier eins?“ – „Aber natürlich“, entgegnete er und steuerte mit ihr durch die immer größer gewordenen Menschenmassen. Direkt vor der Kirche stand das Karussell, das ihm merkwürdig geschrumpft vorkam. Seine Tochter sah das ganz anders: „Oh Papa, das ist ja wunderschön. Guck mal, die feinen Pferde.“ Mit großen Augen lief sie auf eins der Pferde zu, das gerade frei wurde, als das Karussell anhielt. Ihr Vater ging zügig zum Kassenhäuschen und kaufte ihr drei Billetts, die er ihr in die Hand drückte. Stolz wie eine Königin thronte sie auf ihrem Pferd und winkte ihm jedes Mal huldvoll zu, wenn sie an ihm vorbeikam. 

Gedankenverloren blickte er umher, während sie weiterfuhr. Ein Bierstand war da, einer mit Glühwein, einer mit Mützen und Handschuhen und noch einer, bei dem er nicht erkennen konnte, was er feilbot. Das machte ihn neugierig. Seine Tochter saß weiter auf dem Karussell und hatte noch zwei Fahrten vor sich. So machte er ihr mit ein paar Handzeichen deutlich, dass er gerade zu dem Stand hinübergeht, und begab sich schnurstracks dorthin.

Auch als er näherkam, konnte er keine Auslage entdecken. Im Häuschen saß eine ältere Frau auf einem kleinen Hocker neben einem Drucker: „Was gibt es denn hier zu kaufen?“, fragte er neugierig. „Zu verkaufen habe ich nichts“, entgegnete die alte Dame. „Hier gibt es den Geist von Weihnachten.“ Er wunderte sich: „Und wie sieht das aus?“ Die Dame stand umständlich von ihrem Hocker auf und näherte sich ihrem Gast. Dabei kramte sie zu seiner Überraschung ein Smartphone aus ihrem Mantel. „Ich schaue mir die Menschen, die zu mir kommen, kurz an und sehe, was sie von Weihnachten brauchen.“ Nach einigen Augenblicken ratterte der Drucker los. Als er fertig war, faltete sie das Blatt, das herausgekommen war, und steckte es in einen Umschlag, den sie dem Mann reichte. „Frohe Weihnachten“, sagte sie dabei. „Ihnen auch“, antwortete er, immer noch unschlüssig, was er von der ganzen Szene halten sollte.

Auf dem Weg zurück zum Karussell öffnete er den Umschlag. Er nahm den Zettel heraus und entfaltete ihn. Verwundert schaute er ihn an und steckte ihn zurück. Seine Tochter kam in diesem Moment vom Karussell herunter und fragte ihn, was denn los sei, er sehe ein wenig blass aus. „Alles in Ordnung, mein Schatz“, entgegnete ihr Vater und reichte ihr den Umschlag.

Auf dem Blatt Papier sah sie zwei Fotos, die beide ein siebenjähriges Kind zeigten. Rechts erkannte sie sich, wie sie eben auf dem Karussell saß. „Papa, wer ist das auf dem linken Foto?“ – „Das bin ich“, antwortete der Vater und strahlte. „Dreh das Blatt mal um“, forderte er sie auf.

Als das Mädchen das Blatt umdrehte, las es zwei Sätze:

„Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr“, lautete der eine und der andere: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen.“

Ihr Vater schloss die Augen. In dem Moment schlug die Turmuhr neun und die Turmbläser spielten „Ihr Kinderlein, kommet“. Er begann zu verstehen.