Seit vier Jahren nun leite ich den Sprachtreff Marginalia regelmäßig einmal im Monat im Familienzentrum von Bammental. Wir besprechen hier Themen, die mit dem Schreiben, dem Lesen und dem Sprechen zu tun haben. Und gehen so teils heiter, teils ernst der Kommunikation in unserer Gesellschaft auf den Grund.
Rund 40 Themen haben wir seit Mai 2018 beackert, und wenn ich ein Fazit ziehen möchte, dann vor allem dieses: Jedes einzelne Treffen hat die Teilnehmer:innen für das Thema und auch allgemein für den Umgang mit der eigenen Sprache sensibilisiert. Über sprachliche Umgangsformen zu diskutieren bedeutet, aufmerksamer für unsere Sprache zu werden. Und das ist mehr als spannend.
Die individuelle Wortwahl gehört dabei ebenso sehr dazu wie Grammatik oder korrekte Rechtschreibung, wie Gepflogenheiten und Tradition, wie Brandneues, Liebgewonnenes oder Selbsterfundenes, wie Mimik, Gestik und Großherzigkeit. Und vor allem der Ton. Denn der macht nicht nur die Musik. Er macht auch unsere Sprache. Unser Miteinander.
Sprachlich niemanden auszugrenzen ist eins der großen Anliegen des Familienzentrums. Sprachliche Barrieren zu überwinden dabei gar nicht so leicht. Das fängt beim Kommunizieren mit Menschen anderer Sprachen an und hört bei der Überlegung, wie einfach Schriftsprache gestaltet werden muss, damit auch gering Literalisierte sie lesen können, noch lange nicht auf. In den vier Jahren haben wir eine hohe Sensibilität für Phänomene der Sprache erreicht; Veränderung ist in den Köpfen der Teilnehmenden eingetreten, ob es nun ums Gendern, ums Siezen oder Duzen, um das Nutzen von Symbolen und Zeichen oder die Idee einer sprachlichen Barrierefreiheit für öffentliche Häuser ging. Klar ist aber auch, dass noch viel Arbeit vor uns liegt.
Marginalia hat sich mit dem viel diskutierten Gender-Thema beschäftig, aber auch mit persönlichen Lieblingswörtern, mit Familienfloskeln, mit Jugendsprache und dem Sprechen der Generationen untereinander. Belastete Ausdrücke und wie man mit ihnen umzugehen hat, war Thema. Ebenso: Diskriminierung durch Sprache; die Kraft der Sprache, wie sie verletzen und wie sie heilen kann; die Sprachlosigkeit angesichts weltweiter Katastrophen — aber auch die Energie der Wortschöpfung bei weltweiten Festen wie Fußball-Weltmeisterschaften.
Wir durften Vorträge hören, zu denen Marginalia die breite Öffentlichkeit eingeladen hat. Insbesondere zum funktionalen Analphabetismus. Ein Thema, das dringend aus der Verschwiegenheit herausgeholt werden muss, damit den vielen Betroffenen allein in Deutschland das Leben leichter gemacht werden kann. Aber auch zum Übersetzen, zum Dolmetschen, zur Mundart.
Mit einem Schmunzeln lauschten die Besucher dem Vortrag von Dr. Walter Sauer, emeritierter Dozent des anglistischen Seminars der Universität Heidelberg, der heute Kinderbuchklassiker in Dialekte übersetzt und übersetzen lässt. Noch einmal war er unser Gast, als wir der Frage nachgingen, ob es sich im Dialekt besser schimpfen lässt — und dahinter kamen, dass nichts so herzlich ist wie die jeweils eigene Muttersprache, egal, wie sie klingt. Dr. Andrea Schomburg von der Universität Berlin wohnte dem Treffen bei, bei dem man sich mit dem Ursprung von Redensarten beschäftigte, ein Thema zu dem sie mehrere Bücher veröffentlicht hat. Das Treffen wurde zum Quiz-Abend.
Spieleabende gab es ohnehin mehrere bei Marginalia, jüngst zusammen mit Carsten Pinnow vom FZ-Spieleabend, der extra für uns Gesellschaftsspiele mitbrachte, die sich mit Buchstaben, Silben, Wortbedeutung und Co beschäftigen. Es gab einen weiteren Sprachquiz-Abend und einen Abend, bei dem die Teilnehmenden ein eigenes Kreuzworträtsel erstellten. Den meisten Spaß hatten die Teilnehmer des Sprachkreises wohl, als dem Sprachwitz Loriots nachgegangen wurde. Doch auch zur Zwangsreimerei, die sich immer dann einstellt, wenn ein Jubiläum droht, gab es eine äußerst heitere Zusammenkunft. Im Corona-Jahr 2020 spielten alle online mit, als schon im März nach dem möglichen Unwort des Jahres gesucht wurde. Für uns wurde es das von einem Krankenpfleger eingesandte „systemrelevant“.
Im Rückblick lässt sich sagen, wir haben einiges gelernt.
- dass Goethe eine korrekte Rechtschreibung gleichgültig war
- dass Emojis tiefe Gefühle vermitteln können. Sie sind die Gestik und Mimik der Schriftsprache
- dass Loriot mit scharfem Sinn die Schwächen der Kommunikation durchschaute und sein Witz heute noch so aktuell ist wie je
- dass viele Leute Angst vor der Zeichensetzung haben; Kommafehler jedoch zum Kavaliersdelikt avanciert sind
- dass Lektoren Manuskripte zunächst anhand verwendeter Strichpunkte prüfen (und beim Fehlen derselben das Skript ungelesen ablehnen)
- dass ein Dach zu decken weniger lang dauern kann als einen juristisch korrekten Satz für’s Patentamt zu formulieren
- dass Dumbledore uns vormacht, wie Siezen nicht nur auch auf Englisch möglich ist, sondern dass es eine ganz neue Coolness bedeuten kann
- dass es 185 verschiedene Begriffe für „Schießen“ gibt — allein bei Fußballreportern
- dass das Schreiben- und Lesenkönnen in unserer Gesellschaft höher angesehen ist als jede andere Begabung
- dass an einem 80. Geburtstag nicht die Reime das Peinliche sind, sondern dass auf Biegen und Brechen gereimt werden muss
- dass der 30. September der Tag der Übersetzer ist — und Übersetzen selbst ein Tanz in Fesseln
- und dass das Angebot zum „du“ ein Geschenk ist; das Angebot zum „Sie“ jedoch ebenso, wobei man letzteres nicht ausschlagen kann.
Gern hätte ich für Marginalia im Familienzentrum eine Komma-Kummerstunde eingerichtet, bei der man sich kostenlos beraten lassen kann, wo die Kommas in einem wichtigen Text denn nun wirklich hingehören. Wir hätten gern Profi-Schreiber engagiert, wie einst im Mittelalter, die einem bei schweren und wichtigen Texten zur Seite stehen. Marginalia wollte auch gern einen Mailing-Day einrichten, bei dem im Familienzentrum Post erledigt wird. Wo Menschen sich treffen und gemeinsam Briefe schreiben. Sei es ein schön gestalteter, von Hand verfasster Brief an eine Freundin oder ein lästiger Geschäftsbrief, bei dem erneut abgebrühte Profis einem zur Seite sitzen und helfen. Doch da ich im Herbst aus Bammental wegziehe, wird das (hoffentlich!!!) jemand anderes für das Haus übernehmen. Das Thema Sprache wird mich nie loslassen. Und eine Mailing-Liste für Interessierte gibt es immer noch. Auf die auch ihr euch setzen lassen könnt. Die Sprache ist immer für Aufregung und Überraschung gut. Kann schon sein, dass ich mal wieder zum Diskutieren einladen. Sollte es auch nur online sein.
Im Juli und August 2022 lade ich jedenfalls noch zweimal zum Sprachtreff direkt im Familienzentrum Bammental ein:
am Dienstag, 12.7. zum leidigen Äh… und anderen Sprachfüllseln und
am Dienstag, 9.8., auf vielfachen Wunsch noch einmal zum eigenen Erstellen eines Kreuzworträtsels.