von Konstanze Keller
Es passierte im Advent, als ich noch Studentin in Heidelberg war. Unterhalb der Fenster der Neuen Universität tummelten sich Touristen und Besucher des Weihnachtsmarkts; hoch in die Hörsäle drangen seine Laute, während wir Professor Borchmeyer lauschten, der über Thomas Mann redete, oder noch lieber Herrn Dr. vom Hofe, der von Goethe schwärmte, oder noch am allerliebsten Professor Voetz, der so gut über die Mönche in ihren mittelalterlichen Skriptorien sprach. Zu uns drang der Duft von Glühwein und von Zuckerwatte, das Rufen und Kreischen fröhlicher Menschen, vor allem aber das nicht enden wollende Gedudel der Karussell-Musik. White Christmas im unaufhörlichen Wechsel mit Jingle Bells.
Nach den Vorlesungen, als es schon dunkel geworden war, versammelten wir uns dann selbst am Glühweinstand. Unsere Freunde kamen dazu, die draußen im (Neuenheimer) Feld(e) studierten – Mathematik, Physik, Chemie. Wo es keinen Weihnachtsmarkt gab wie hier bei den Altphilologen, Literaten und Philosophen in der Altstadt. Wir quatschten und lachten und lästerten und hatten Spaß wie jeden Abend, als es plötzlich passierte.
Als habe es einen Knall getan.
Dabei knallte es nicht; es passierte ohne jedes Geräusch, wie immer wenn der Strom ausfällt. Man hört nichts. Außer dem kurz darauf einsetzenden kollektiven Murmeln tiefen Verblüffens. Einige Leute schrieen vor Schreck sogar kurz auf oder lachten hysterisch. Doch dann verstummten sie in Ratlosigkeit und Staunen. Genau genommen war im ersten Moment auch nichts zu sehen. Und doch waren alle Sinne mit einem Mal hellwach. Der unvermittelte Wegfall von etwas, das permanent da ist, reißt durch sein plötzliches Fehlen eine solche Lücke, dass man das zuvor Dagewesene, das zuvor Viel-zu-viel-Dagewesene, erst dann spürt – und mit aller Vehemenz die plötzliche Lücke begreift. So dröhnte auch jetzt das Nichts in unseren Sinnesorganen. Das Alles war abgeschaltet worden. Doch es passierte noch mehr. Es war, als hätte jemand zwar den Ausschalter der uns bekannten Welt gedrückt, doch als drehe er damit auch den Regler von etwas anderem in aller Langsamkeit hoch. Denn natürlich fiel eine Menge aus — die Beleuchtung der Buden, die Kühlaggregate der Getränke-Eisschränke, die weißen, gelben und roten Glühbirnen-Ketten, die elektrischen Crêpes-Platten, die Zuckerwattemaschinen, die knatternden Edelstahlschüsseln, in denen Mandeln gebrannt wurden. Alles aus mit einem Mal. Das Karussell blieb stehen, die bewegten Krippefiguren erstarrten in ihren armseligen Bewegungen, Leuchtreklamen verloschen, die vielen Besucher hielten die Luft an, als müsse auf den einen Schrecken der nächste folgen – White Christmas und Jingle Bells war der Saft ausgegangen. Erst in diesem Moment spürte ich, welche Wohltat es war, dass das Gedudel endlich schwieg.
Ausgeschaltet war das alles mit einem Schlag. Doch etwas anderes ging an. Ganz langsam. Wie Magie. Unter einem sich lüftenden Schleier, ruhig und lächelnd, wie es mir schien, tauchte sie auf: eine andere Welt. Als erwachten wir aus einem hektischen Traum. Nicht indem jemand ein neues Licht anknipst; viel mehr so wie wenn der Mond über einer verschneiten Landschaft aufgeht und langsam die ganze Welt mit milchigem Licht behutsam übergießt. Denn mitnichten war vom Stromausfall der ganze Markt betroffen. Vielmehr tauchte um uns herum ein anderer Weihnachtsmarkt auf – einer, der bisher vom anderen Markt verdeckt, ja, überlagert gewesen sein musste. Da drüben brannten Fackeln im Boden und beleuchteten einen kleinen Stand, der mir bisher noch nie aufgefallen war. Als ich jetzt hinsah, sah ich das Gesicht einer Frau mit blauem Kopftuch dahinter mit ebenfalls vor Staunen glänzenden Augen. In ihrer Auslage stapelten sich Holzmodeln in den verschiedensten Formen, so schön übereinander und nebeneinander gestapelt. Der Schein der Flammen spielte in den runden, überaus hübschen Ausformungen des glatten, hellen Holzes. Drei Stände weiter leuchtete zaghaft eine Miniaturstadt. Da standen bestimmt vierzig Steinguthäuschen, in deren Innern Teelichte angezündet waren und im Dunkel des Markts zu leben begonnen hatten. Weiter weg brannten drei Feuerschalen, um die herum Silhouetten von Menschen auftauchten, die sich an ihnen wärmten. Bald schon mit aller Macht strahlend. Langsam setzte auch das Flüstern, Murmeln und Reden der Menschen wieder ein; sie waren alle noch da, auch wenn man die meisten zwischen den völlig im Dunkeln liegenden Buden nicht sehen konnte. Was ich sah, war das Flackern in den Augen meiner Freunde. Am Honigstand leuchteten zwei Kerzen und dahinter zwei kugelrunde Leute mit Hüten. An einem einzigen der Bratwurststände glimmte ein Grill, der einzige, der mit Kohlen heizte. Ein schwarzäugiger, rotwangiger Mann daran, der den Umsatz des Abends machen sollte. Und noch bevor sich einer von uns oder der anderen Besucher des Markts in dem nach und nach in ruhig flackernden Konturen neu auftauchenden Budenzaubers zu regen wagte, ertönte eine Melodie, die jeder kannte. Schüchtern zwar und etwas schräg geblasen auf einer kindlichen Blockflöte aus irgendeiner Ecke. Stille Nacht. Heilige Nacht. Alles schläft, einsam wacht…
Noch nie hatte ich etwas so Schönes gehört. Und es war deutlich zu spüren, dass viele Menschen um mich herum den gleichen Gedanken dachten.
Über eine Stunde lang blieb an diesem Abend der Strom weg. Immer mehr Holzbuden entzündeten Kerzen und Teelichte. Immer mehr Konturen traten hervor. Einmalige Gesichter tauchten auf. Hübscheste Gegenstände wurden angeflackert, die vorher gar nicht dagewesen zu sein schienen. Was vorher als universaler Weihnachtsmarktduft über allem gelegen hatte, spaltete sich nun auf in so viele individuelle Aromen. Lebekuchenhauch, würziger Atem von Kräuterbonbons, Bienenwachsduft, weich wie Lammfell, Anisplätzchenschwaden, zarte Räucherstäbchenfahnen – intensiv wie nie zuvor. Hellwach alle Sinne im Dunkel des Markts. Alles da, was wichtig war. Gedämpft unter dem Eindruck des unverhofften Augenblicks, ohne die viel gerühmten Errungenschaften der Elektrizität. Nichts musste etwas anderes übertönen.
Eine Stunde nur, dann kehrte alles zurück.
Eine Stunde, in er nur die Händler etwas verdienten, die noch Bargeld nahmen und Handkässchen oder Kurbelkassen hatten. Viele mussten warten, denn selbst der Konsum war ein anderer geworden.
Welch eine kostbare Stunde auf dem Weihnachtsmarkt des Heidelberger Uniplatzes. Wirklich geschehen? Oder nur erträumt im vollen Hörsaal, als meine Professoren so wunderbar lasen von Thomas Mann, Goethe und den alten Mönchen in ihren Skriptorien, während White Christmas zu uns herauf karussellierte? Wer weiß? Ich kann es nicht mehr sagen.